Kreuzberger Chronik
September 2021 - Ausgabe 232

Herr D.

Der Herr D. geht zum Impfen


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von Hans W. Korfmann

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Was die BVG gegen die Pandemie unternimmt
Der Herr D. konnte nicht mehr vors Haus treten, sich nirgendwo hinsetzen und niemanden treffen, ohne dass er gefragt wurde: »Und? Bist du schon geimpft?« Wenn er dann den Kopf schütteln musste, weil gleich zwei seiner Termine gescheitert waren, dann sah er sich einem Verhör und kritischen Blicken ausgesetzt – obwohl er doch zu den Impfwilligen gehörte.

Das sollte nun ein Ende haben. Der Herr D. bestellte sich ein Taxi, denn für Senioren, so hatte er es in der Abendschau gehört, sollte die Anreise zu den Impfzentren per Taxi ein kostenfreier Service sein. Aber der Mann am Empfang sagte, der Herr D. sei noch zu jung für die kostenlose Taxifahrt. Der Herr D. gab dem Taxifahrer dreißig Euro.

Dann wartete er auf einem Stühlchen vor dem Kämmerchen auf die Ärztin, um die obligate Impfung in Empfang zu nehmen. Doch als der Herr D. von seiner Magenverstimmung berichtete, da sagte sie: »Ich kann Sie impfen. Aber ich würde es Ihnen nicht empfehlen. Kommen Sie nächste Woche, Ihr Immunsystem muss ja nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen, wenn es sich vermeiden lässt.«

Schweren Herzens trat er den Rückweg an, diesmal mit dem kostengünstigen 104-er der BVG. Als er seinen Zwanzigeuroschein unter der Scheibe hindurchschob, sah ihn die blonde Busfahrerin an, als käme er vom Mond.

»Nur Kartenzahlung!«

»Ich habe keine Karte!«

»Jeder hat eine Karte!«, sagte sie. Der Herr D. überlegte: »Ja, ich habe auch so ein paar Karten, aber nicht dabei.«

»Dann kann ich Sie nicht mitnehmen.«

Der Herr D. erwog, auch ohne Fahrschein Platz zu nehmen, aber er befürchtete, dass die Blonde heimlich und leise das Ordnungsamt kontaktieren könnte, das ihn drei Stationen später aus dem Bus zerren würde. Darauf hatte der Herr D. an diesem Tag keine große Lust mehr. Er stieg wortlos aus. Eine Reklame für die BVG war diese Szene nicht.

Der Herr D. ging in einen Laden, um seinen Zwanziger in Kleingeld zu verwandeln. Er griff sich ein Fläschchen Mineralwasser und legte es auf das Band. Die Verkäuferin sah den Herrn D. streng an und sagte: »Sie müssen einen Wagen nehmen, sonst muss ich sie rauswerfen.«

Mit den Münzen in der Hand bestieg der Herr D. den nächsten Bus und legte vier Euro ins Schälchen, aber der Fahrer sah ihn an, als käme er gerade vom Mond. »Nur mit Karte!«, sagte er. – »Ich habe keine, und ich komme vom Impfen, und ich will jetzt nach Hause!«

Der türkische Fahrer war nicht ganz so unfreundlich wie die blonde Deutsche, er sagte: »Aber wenn eine Kontrolle kommt, ist das Ihr Problem.« Der Herr D. setzte sich aufs Oberdeck und dachte während der ganzen Fahrt darüber nach, das mit dem Impfen aufzugeben. •


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