Kreuzberger Chronik
Mai 2021 - Ausgabe 229

Herr D.

Der Herr D. und die Erfurt


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von Hans W. Korfmann

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Da dem Herr D., der die Wohnung hüten musste, allmählich die Zimmerdecke entgegenkam und auf den Kopf zu fallen drohte, entschied er sich für einen Tapetenwechsel. Die alte Blümchentapete, die er seiner blonden Freundin zuliebe gegen die leicht angegraute, aber »völlig unakzeptable« Raufasertapete aus den Siebzigern ausgetauscht hatte, musste herunter, und der alte Klassiker, die Erfurt aus der Studentenzeit, wieder drauf. Davon hatte der Herr D. tatsächlich noch einige gut verpackte Rollen in einem Karton im Keller, doch beim Durchzählen wurde klar, dass ein Ende seiner Pechsträhne noch immer in weiter Ferne war: Ihm fehlte genau eine Rolle!

Also begab er sich ins Internet, Poco am Blücherplatz hatte die Erfurt noch auf Lager. Er machte sich auf den Weg, doch am Haupteingang des real existierenden Kaufhauses war ein Schalter aufgebaut, ähnlich den Grenzkontrollen zwischen Amerika und Mexiko. Das Codewort Erfurt, das dem Herrn D. in den Siebzigern so viele Türen und sogar Herzen geöffnet hatte, half ihm an dieser Stelle wenig:

»Erfurt?«, sagte der Mann am Schalter und betonte drei riesige Ausrufezeichen, »Erfurt ???...« - Der Herr D. erklärte, der Mann verstand: »Ok, alles klar, also dann einmal um den Block herum, rechts oder links, das überlasse ich Ihnen. Und da ist die Warenausgabe.«

Der Herr D. lief zweimal ums Eck, reihte sich in die Schlange ein und wartete. Als er an der Reihe war, ging alles sehr schnell, die Erfurt wurde gefunden, die Artikelnummer notiert und das Geld - 3,49 - kassiert. Nur hinein durfte er noch immer nicht. »Sie müssen hier draußen warten.« – »Wie lange?« – »Zwanzig Minuten.«

Der Herr D. wusste, dass das Ende der Pechsträhne noch in der Ferne lag, und blieb ruhig. Zwanzig Minuten lang. Dann kam der Mitarbeiter und verkündete: »Erfurt ist ausverkauft!« Wahrscheinlich haben noch mehr alte Männer die Blümchentapeten ihrer Verflossenen von der Wand gerissen, dachte der Herr D. und sagte: »Dann möchte ich mein Geld zurück.« – »Das geht nicht!«, antwortete der Mitarbeiter hinter seiner Glasscheibe. »Die Rückzahlung müssen Sie im Internet beantragen. Sie bekommen den Betrag überwiesen.«

Der Herr D. war lange genug geduldig gewesen, er wollte gerade ausholen, da meldete sich ein Tapezierer hinter ihm: »Sie müssen nach vorne zum Haupteingang, da bekommen Sie ihr Geld zurück!«

Der Herr D. lief zweimal ums Eck. Tatsächlich nickte man im Haupteingang, und beinahe hätte der Herr D. seine 3, 49 auch zurückbekommen. Die Übergabe, die im Inneren des Kaufhauses hätte stattfinden sollen, scheiterte im letzten Moment. Am fehlenden negativen Corona-Bescheid.

Als der Herr D. wieder zuhause war, erhielt er eine Email. Von Poco. »Ihre Bestellung liegt jetzt zum Abholen bereit.«


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