Kreuzberger Chronik
November 2020 - Ausgabe 224

Herr D.

Der Herr D. am Stammtisch


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von Hans W. Korfmann

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oder

Von den langweiligen Diskussionen der 68er


Der Herr D. war lange nicht am Stammtisch gewesen, die Sechzigerjahre-Diskussionen langweilten ihn. Jetzt schaute er wieder einmal vorbei, und alle waren noch da, die ganzen, längst in Rente gegangenen Kampfgenossen.

»Ihr sitzt ja immer noch so da wie früher! Als wär überhaupt nix passiert!«, sagte der Herr D. und zog sich einen Stuhl heran. - »Was soll schon passieren, wenn wir nicht mehr auf die Straße gehen!«, grinste Horst.

»Wieso denn!«, meinte Olli. »Heute waren 20.000 Leute auf der Straße. Gegen die Autorität des Staates. Für die Freiheit.«

»Blödsinn! Was denn für ´ne Freiheit? Die Freiheit, im Supermarkt ohne Maske einzukaufen? Die Freiheit, wieder in den Urlaub zu fliegen und die Luft zu verpesten? Die Freiheit, in volle und teure Restaurants zu gehen?«, höhnte Horst. »Früher haben wir die Super- märkte angezündet und Stinkbomben in Restaurants geworfen, und jetzt betteln wir darum, im Restaurant Geld ausgeben zu dürfen. Die, die heute demonstrieren, demonstrieren nicht gegen den Konsum, sondern für ihn. Alles, was die wollen, ist ihre verdammte Bequemlichkeit zurück. Das ist ein Protest des Spießbürgers! Das ist kein Sand im Getriebe der Welt, das ist reinstes Öl !«

»Darum geht es doch gar nicht!«, meinte Bea. »Es geht darum, was die da mit uns machen! Was die sich erlauben!«

»Wer denn, die da ?«, höhnte Nickel.

»Na die, die diese Verordnungen erlassen!«, meinte Bea. »Gegen unseren Willen! Sperrstunde In Berlin! Deshalb sind wir mal hierhergekommen, weil es die hier nicht gab. Die wollte doch Diepken schon einführen, seit 30 Jahren wollen die, dass wir abends um acht ins Bett gehen. Ich war auch da heute Mittag…«

Der Herr D. unterbrach den Moment betretenen Schweigens, der eintrat, nachdem Bea sich geoutet hatte. Er sagte: »Bea - an einer Seite mit den Rechten ! Wer hätte das gedacht ?«

»Wie schön, dass unser Herr D. wieder da ist!«, brummte Bea.

»Also, ich gehe jetzt seit 60 Jahren auf die Straße« , sagte Horst, »und es ging immer um irgendwelche Geschäfte, es ging immer um die Wirtschaft, ganz egal, ob es um einen Krieg, um die Notstandsgesetze, die Mieten oder die Atomkraftwerke ging. Wenn Greta heute auf die Straße geht, um die süßen Eisbären zu retten, dann nur, weil die Automobilkonzerne in den Achtzigern die Energiewende verhindert haben. Es gab immer um ein Thema: Profitsucht! Das ist diesmal anders. Diesmal macht keiner Geschäfte. Wenn die Wirtschaft kollabiert, sind alle Verlierer.«

Auf dem Heimweg dachte der Herr D., dass die Diskussionen der 68er gar nicht so langweilig waren. •


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