Kreuzberger Chronik
Februar 2020 - Ausgabe 216

Herr D.

Der Herr D. muss warten


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. ärgerte sich: Im Fernsehen, im Radio, überall nur noch ein Thema: Der Mauerfall. Selbst in seinem kleinen Café, in dem es sonst um rasende Radfahrer, den Kreuzberger Baustadtrat Schmidt, exorbitante Mieterhöhungen oder Bauvorhaben auf dem Friedhof nebenan ging, sprach man über die große Politik. Über Ost und West. Gut und Böse.

»In der DDR gab´s doch nix. Die standen doch 40 Jahre wegen ´nem Päckchen Butter an!«, lästerte ein alter Wessi.

»Und vor den Obst- und Gemüseläden standen sie bis auf die Straße wegen zwei Bananen!«, kommentierte ein anderer.

»Aber es war nicht alles schlecht!«, wagte die Ex-Ossi einen Einspruch. »Unser Ampelmännchen war schöner!«

Der Herr D. hörte den Geschichten über die Zumutungen des DDR-Systems mit seinen Wartezeiten eine Weile zu und sagte dann, dass er sich immer bemüht habe, pünktlich zu sein, weil er es für anmaßend halte, mit der Zeit anderer derart respektlos umzugehen.

Während die kleine Kaffeegesellschaft weiter über die DDR lästerte, dachte der Herr D. an seinen Supermarkt, der stets nur zwei der fünf Kassen öffnete, ungeachtet der Tatsache, dass die Wartenden bis zur Fleischabteilung standen. Noch schlimmer war es auf der Deutschen Post, wo vor den zwei letzten geöffneten Schaltern die Warteschlangen bis auf die Straße hinaus reichten.

Auch die Menschenmassen, die sich anlässlich der letzten noch stattfindenden Wohnungsbesichtigungen vor den Kreuzberger Altbauten nicht selten um den halben Block stauten, erinnerten den Herrn D. an die historischen Fotografien amerikanischer Arbeitssuchender in der Weltwirtschaftskrise oder Hungernder vor der Essensausgabe in Kriegszeiten.

Erstaunlich war auch die Menschenmenge beim Orthopäden morgens um halb neun, eine halbe Stunde vor Praxiseröffnung. Als der Herr D. die Tür öffnete, hatte sich das geräumige Treppenhaus in eine Art Bahnhofshalle verwandelt, in der etwa vierzig Menschen darauf hofften, noch einen Termin zu bekommen.

All das ging ihm durch den Kopf, in der kleinen Caférunde allerdings war die Diskussion noch immer bei den Bananen: »Das ist doch kein menschliches System, bei dem man wegen zwei Bananen eine halbe Stunde warten muss!«, merkte eine Dame an.

»Finden Sie es etwa besser, wenn ein Wohnungssuchender bei der Wohnungsbesichtigung zwei Stunden warten muss, oder wenn Sie sich den Fuß gebrochen haben und beim Orthopäden drei Stunden im Treppenhaus stehen? Oder wenn Sie ein halbes Jahr auf Ihren OP-Termin warten müssen? Also, wenn Sie mich fragen: Da verzichte ich lieber auf die Banane!« Sagte der Herr D., stand auf und ging. •


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