Kreuzberger Chronik
April 2020 - Ausgabe 218

Herr D.

Der Herr D. klaut Kaffee


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. wollte einen Freund besuchen, der in ein Haus gezogen war, in dem viele alte Leute wohnten. Eigentlich nur alte Leute. Jeder hatte ein kleines Zimmer in diesem Haus, ein winziges Bad und eine große Gemeinschaftsküche, in der man sich Kaffee oder Wasser oder ein Stück Brot holen konnte. Kochen konnte man dort nicht, das Essen wurde geliefert.

Das Haus war ein ödes Haus mit langen Gängen und vielen Türen, an denen die Namen der Bewohner standen. An den Wänden hingen Zettel, auf denen sich das Unionhilfswerk für die Lärmbelästigungen durch die Arbeiten am Neubau entschuldigte, sowie Fotografien von Parkanlagen, Tieren und Blumen, der ganzen schönen Welt, von der die Bewohner dieses Hauses nur noch diese Bilder sahen.

Der Herr D. hatte aus dem kleinen Café in der Heimstraße Käsekuchen mitgebracht. Der Käsekuchen sei »sein Lebenselixier«, hatte der Freund gesagt. Den Kaffee zum Kuchen wollte der Herr D. aus der Gemeinschaftsküche holen, wo die großen Thermoskannen stets gefüllt waren. Er stellte zwei Tassen auf ein Tablett, holte die Milch aus dem Kühlschrank und griff nach der Kanne. Doch die Kanne war leer.

»Es gibt keinen Kaffee mehr!«, hörte er hinter sich die Stimme der Stationschefin. »Der Kaffee ist jetzt limitiert. Sie können sich nicht mehr einfach so einen Kaffee nehmen.«

Der Herr D. ließ sich nicht einschüchtern, ging eine Etage tiefer, wo eine Afrikanerin damit beschäftigt war, das Geschirr in die Maschine zu räumen. »Könnte ich vielleicht zwei Tassen Kaffee haben!«

»Nein, das geht leider nicht. Und an Fremde schon gar nicht! Wir haben Anweisung von oben!«

»Sie werden doch noch zwei Tassen Kaffee übrig haben, wenn hier Besucher kommen!«, sagte der Herr D.. Nicht ohne einen Blick in den Gang zu werfen, ob eventuell ein Zeuge ihrer Zuwiderhandlung sie sehen könnte, füllte sie zwei Tassen halbvoll mit Kaffee.

»Mineralwasser bekommen wir jetzt auch keines mehr. Nur noch gefiltertes Leitungswasser!«, sagte der alte Freund vom Herrn D.

Als der Herr D. zwei Stunden später das Haus verlassen wollte, kam ihm eine Frau entgegen, die von Tür zu Tür ging und die Namensschilder studierte. »Wen suchen Sie denn?« fragte der Herr D. »Mein Zimmer!«, antwortete die Frau. Der Herr D. suchte mit ihr die ganze Etage ab, aber sie fanden ihren Namen nicht. Personal, das sie hätten fragen können, fanden sie auch nicht. Erst im vierten Stock kam ihnen die Afrikanerin entgegen. Sie sagte: »Es fehlt eben nicht nur am Kaffee, sondern auch am Personal!«

Wenig später stand der Herr D. vor der gigantischen Baugrube des Hilfswerks, der Ursache all dieser Sparmaßnahmen. »Was für ein armseliges Land wir doch sind!«, murmelte der Herr D. •


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