Kreuzberger Chronik
Juni 2019 - Ausgabe 210

Herr D.

Der Herr D. bleibt beim


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von Hans W. Korfmann

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Von modernen Verkaufsmethoden und neuen Nachbarinnen


Der Herr D. betrat den Laden und sagte: »Guten Morgen!« Der junge Mann mit der Krawatte und dem weißen Hemdkragen sagte: »Hallo, was kann ich für Dich tun?«

Das brachte den Herrn D. durcheinander. Nicht, weil er sich für das freundschaftliche »du« zu alt vorgekommen, oder weil ihm der frisch gebackene Abiturient mit der Krawatte zu jung gewesen wäre, sondern weil der Herr D. Herren in Krawatte in der Regel mit einem zurückhaltenden »Sie« ansprach.

Der Herr D. erinnerte sich, wie er vor dreißig Jahren dieses Viertel betrat, in dem sich scheinbar alle duzten. Als altem Bonner war ihm das zunächst lächerlich vorgekommen, monatelang beharrte er sogar im Treppenhaus gegenüber seinen Nachbarn noch auf dem respekt-vollen »Sie«. Aber mit der Zeit verstand er, dass die persönliche Anrede eine Art Codewort war, mit dem sich die Alternativen des Stadtteils begrüßten. Das »du« war ein Protest gegen die geltenden Hierarchien. Man sah sich kurz in die Augen und wusste: Das ist einer von uns.

Jetzt war dieses »du« zu einer Modeerscheinung, und im Geschäftsleben sogar zu einer Verkaufsstrategie verkommen. Es diente dazu, innerhalb von Sekundenbruchteilen ein Vertrauensverhältnis zwischen Käufer und Verkäufer herzustellen, das bei den folgenden Verhandlungen für den Käufer nur noch von Nachteil sein konnte.

»Könnten Sie mir mal die Preise erläutern!«, sagte der Herr D.

»Du kannst doch sicher lesen?«, sagte der junge Mann und drehte ihm den Bildschirm zu, auf dem eine kilometerlange Exceltabelle zu sehen war, mit winzigen Buchstaben und winzigen Ziffern.

Kaum hatte der Herr D. den Laden verlassen, traf er auf Sabine. Sabine und der Herr D. waren alte Verschworene. »Was machst Du denn hier?«, fragte sie. »Ich bin gerade geflüchtet!«, sagte der Herr D. und schimpfte über den »jungschen Verkäufer.«

»Ich hab da auch so was erlebt«, sagte Sabine und erzählte, dass die Post ein Päckchen für sie bei der neuen Nachbarin abgegeben hatte. Sabine klingelte, sagte, sie sei die Nachbarin aus dem dritten Stock, und zeigte den Zustellschein. Woraufhin die junge Frau mit dem Kind auf dem Arm sagte: »Könnten Sie mir bitte Ihren Ausweis zeigen!«

Sabine hatte das für einen Scherz gehalten, aber das strenge Gesicht der Nachbarin ließ keinen Zweifel zu: Sie meinte es ernst!

»Wir sind doch hier in Kreuzberg. In Kreuzberg sagen wir du, und in Kreuzberg zeigen wir niemals unsere Ausweise!«, klärte Sabine die Nachbarin auf. Doch die Neue gab das Päckchen nicht heraus, Sabine musste zurück in ihre Wohnung und den Ausweis suchen.

»Ich ärgere mich über das du, und du über das Sie!«, sagte der Herr D., »aber im Grunde ärgern wir uns ja beide darüber, dass es kaum noch Leute gibt, zu denen man guten Gewissens du sagen kann.« •


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