Kreuzberger Chronik
Dez. 2019/Jan. 2020 - Ausgabe 215

Kreuzberger
Die Puppenspieler - Teil 1: Daniel Wagner

Wenn es ernst wird, muss ich dazwischen gehen


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von Hans W. Korfmann

Fotos: Holger Groß

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Seinen ersten großen Auftritt hatte er in der Schule. »Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen.« Er war - wieder einmal! - zu spät, stand draußen im Gang vor der Tür des Klassenzimmers und hörte, wie die Lehrerin die Namen der Mitschüler aufrief: »Kiepert« - »Hier!« -»Kunert« . »Hier!« - »Lichtwer«- »Hier!« Sie war bereits beim »L«, und Daniel wartete mit dem Ohr an der Tür, bis sie endlich »Wagner« sagte. Dann drückte er die Klinke herunter, stolperte atemlos ins Zimmer und riss den Arm hoch: »Hier!«

Alles lachte. Sogar die Lehrerin. Er hatte gepunktet. Zum ersten Mal, seit er einen Schulraum betreten hatte. Damit war alles klar. »Und Du bist also unser Klassenkasper!«, sagte die Lehrerin.

So ungefähr fing alles an. Doch ganz so einfach, wie es heute klingt, war es damals nicht. Den Vater hat Daniel nie gesehen, ein richtiges Zuhause gab es nicht, denn die Mutter war Puppenspielerin und ließ ihre Puppen auf den Bühnen der gesamten DDR tanzen, den kleinen Daniel immer im Gepäck. Sie wohnten in Magdeburg, in Frankfurt, in Dresden - je nachdem, wo sie ein Engagement fand. Es war ein ruheloses Künstlerleben, in das Daniel hineingeboren wurde.

Regina, Daniels Mutter, hatte just in dem Jahr einen Platz an der Schauspielschule erhalten, als sie feststellte, dass die zwei oder drei Nächte mit dem jungen Mann aus Bad Muskau nicht ohne Folgen sein würden. Dass da etwas im Werden war: Daniel. So kam es, dass sie den Kleinen mitnahm in die Schauspielschule Ernst Busch, wo er - so wird es heute in der Familie erzählt - im Kinderwagen draußen auf dem Gang herumgekaspert haben soll, während die Mutter drinnen studierte. So wurde ihm die Schauspielerei in die Wiege gelegt.

Glücklicherweise lernte die Mutter an der Schule nicht nur die Kunst des Puppenspiels, sondern auch Ralf kennen: Ralf Wagner, den späteren Puppenmacher. Von ihm hat Daniel die Liebe zur Tischlerei geerbt. Obwohl Daniel jetzt kaum noch Zeit hat vor lauter Arbeit, hat er sich schon einmal Stechbeitel, Sägen, Raspeln und eine Hobelbank zugelegt. Immerhin hat Daniel in der Obentrautstraße seine Gesellenprüfung als Tischler abgelegt, bevor er dann doch noch in die Fußstapfen der Mutter trat. Weil man mit einem Sinn für Humor auf der Bühne mehr anfangen kann als in einer Tischlerei.

"Ohne Anna geht gar nichts" -
Foto: Holger Groß









Sein ausgeprägter Sinn für Humor stand Daniel oft im Wege. In der Schule in Adlershof etwa, wo er die erste Klasse absolvierte, bei Frau Großpietsch. »Den Namen vergess´ ich nie. Das war ganz alte Schule, tiefste DDR.« Ohne Platz für quirlige Kasper wie Daniel. Sein neuer Vater, der Puppenbauer, versuchte noch, den Kleinen etwas zurechtzubiegen fürs System, »aber da kam er einfach schon zu spät!« Außerdem stand der Puppenbauer mit seiner Gesinnung selbst »mit einem Bein im Knast«. Es gab eigentlich keinen anderen Weg für Daniel und seine Familie als den in den Westen. Das sah sogar die DDR ein und ließ sie 1986 ziehen. Da war Daniel neun Jahre alt, aber er erinnert sich gut an das Auffanglager in Spandau, das kleine Zimmer, in dem die Flüchtlinge zu fünft wohnten. Und an den Geruch der ersten Donald-Duck-Hefte. Und dann kam die erste Schule im Westen, die Lynar-Schule, die auch nicht besser war als die im Osten. »Die Lehrerin sah auch genau so aus wie die andere!«, nur, dass sie nicht Großpietsch sondern Penzeck hieß. Was auch nicht freundlicher klang. Es hätte also auch schlimm enden können mit Daniel. Aber dann kam sein erster großer Auftritt auf der Schule am Johannisstift. »Wagner?« - »Hier!« - Jetzt war er Klassenkasper.

Und von da an ging es bergauf. Auch für Daniels Mutter und den Puppenmacher. Regina und Ralf pachteten ein kleines Theater in der Zitadelle von Spandau. Anfang der Neunziger hatten sie die erste Premiere, inzwischen ist es ständig ausverkauft. Und Daniel ging mit seiner Klasse ins Grips-Theater und sah die Linie 1. »Da war klar: Ich wollte auf die Bühne.« Und so begann der Sohn, der nie eine dieser schönen Puppen des Vaters in die Hand genommen, nie den Reiz verspürt hatte, mit ihnen zu spielen oder in ihre Rollen zu schlüpfen, sich plötzlich fürs Puppentheater zu interessieren, diese künstliche Welt seiner Eltern. »Ich dachte: Ey, Puppentheater kann ja richtig cool sein!«

Jetzt steht er selbst auf der Bühne. Hat Auszeichnungen erhalten, Preise gewonnen. Tourt wie einst seine Mutter durchs Land und ist den halben Monat unterwegs in der neuen Republik, in der Schweiz, in Österreich, Belgien - »überall, wo man Deutsch spricht.«

Und hat sein eigenes kleines Theater, das Theater im Bergmannkiez, in der Fidicinstraße, da, wo Mühlenhaupts Zwerge im Hof stehen, in der Nummer 40. Da kommt er durch die Tür wie damals in der Schule, das Hemd nicht ordentlich in der Hose, Schiebermütze auf dem Kopf, immer den Schalk im Nacken. Er sitzt an der Kasse, schenkt Limo oder Sekt aus, rückt die Scheinwerfer zurecht, stolpert auf die Bühne und beginnt, den Kindern oder den Erwachsenen etwas zu erzählen. Erfundenes, gerade Erlebtes, Aufgeschriebenes. Oder er nimmt sich die Gitarre und singt ein Lied. »Das wollte ich doch immer schon mal machen. Singer, Songwriter…«

Und dann, irgendwann, schnappt er sich eine dieser kleinen Puppen und erweckt sie zum Leben. Einem Leben, das Daniels wirklichem Leben manchmal ziemlich nahe kommt, wenn die kleinen Figuren da auf den Mauern und Stühlen sitzen und die Beine baumeln lassen, wenn sie so über ihre kleine Bühnenwelt schlendern wie Daniel durchs große Leben: schlaksig, immer vor sich hinbrabbelnd und jedes Mal nicht nur erschreckt, sondern auch irgendwie angenehm überrascht, wenn da nicht plötzlich die süße Prinzessin, sondern der böse Wolf oder das Krokodil oder die Hexe vor ihm steht. Die irgendwie deutlich an Frau Großpietsch oder Frau Penzeck erinnert.

»Über den Reiz des Bösen in der Darstellenden Kunst«, so lautete das Thema von Daniels Abschlussarbeit an der Ernst Busch Schule, mit der er glatt durchfiel. Wegen der vielen komischen Randbemerkungen, die er an die Seite schrieb. Er kann diese Clownereien einfach nicht lassen, auch abends nicht, am Tisch, wenn die Kinder eigentlich ins Bett sollen, und wenn Daniels Frau schon wieder die Augen verdreht, weil die Kinder nicht wie einst ihr Papa ständig zu spät zur Schule kommen sollen. Nicht jedes Schulleben hat ein Happy End.

Daniel also flog durch beim ersten Versuch an der Ernst Busch Schule, er sei »zu albern!« Beim zweiten Versuch wurde er zur praktischen Prüfung zugelassen. Er spielte »Gevatter Tod« von den Grimms, eine ernste Angelegenheit eigentlich. Aber Daniel brachte die Prüfer auch mit Gevatter Tod noch zum Lachen. »Wenn es zu ernst wird, muss ich dazwischen gehen. Dann muss ich das brechen.« Das taten schon alle großen Komiker, allen voran Charles Chaplin. Wenn es zu ernst wurde, dann wurde er komisch. Er überspielte die Angst. Er wuchs über sich selbst hinaus, wenn der riesige Bär vor ihm stand oder der drei Mal so große Boxer in den Ring stieg und die Fäuste ballte.

Auch in Daniel steckt, gut verborgen, viel Ernstes. »Angst zum Beispiel!« Ein großes Thema! Aber das spüren die Kleinen nicht, die da unten sitzen und lachen oder sich fürchten. Auch die Großen nicht, die sich abends bei Wein und Sekt bei den Vorstellungen »Nicht nur für Erwachsene« in die wunderbare Welt des Puppenspiels entführen lassen. Selbst Daniel spürt den Ernst nicht mehr, wenn er spielt. Vielleicht spielt er deshalb so gut. Und so viel. Zehn Stücke sind es jetzt schon, mit denen er dieses Jahr auf der Bühne steht, zehn Stücke mit manchmal drei oder vier Rollen. So ist er nie ganz allein im Scheinwerferlicht. Da sind all diese kleinen Seelenverwandten mit den schlackernden Beinen. Und da ist Anna. Ohne Anna ginge gar nichts. Ohne Anna gäbe es das Theater im Bergmannkiez nicht. Sie haben es gemeinsam gegründet, um endlich sesshaft zu werden. Um nicht immer nur auf Tour zu sein. Wie einst schon die Mutter.

Zum ersten Mal begegnete er Anna in der Schauspielschule auf dem Gang. »Aber die war total flüchtig«, nur so eine Erscheinung. Schwebte vorbei. »Wow!« Natürlich hatte die immer einen Freund, »da war nix zu machen.« Doch irgendwann, in Potsdam in der Straßenbahn, stand sie vor ihm. Er war so überrascht wie das arme Schneiderlein, wenn es plötzlich auf die Prinzessin trifft. Sie plauderten, mehr nicht. Aber Jahre später sagte sie: »Kannst du dich nicht erinnern, damals, in der Straßenbahn?« - »Das warst du? Ehrlich?«

Jetzt haben sie Kinder zusammen. Stehen zusammen auf der Bühne. Wenn Daniel das Licht ausdreht und sie sich hinter den Vorhang zurückziehen, sagt er zu ihr: »Bis nachher!« Das Publikum ist schon ganz still, er spielt jetzt den König, sie die Königin. Und weil so ein König nie Zeit für Privates und immer furchtbar viel zu tun hat - mindestens so viel wie ein Puppenspieler - begrüßen sie sich wie damals in der Straßenbahn. »Hey, lange nicht gesehen!« Und dann nehmen sie ihre Puppen und fangen an zu spielen.

Sie sehen sich kein einziges Mal an während des Spiels, haben nur noch Augen für ihre Puppen. Nur noch Stimmen für ihre Puppen. Es gibt während der ganzen Aufführung nur einen winzigen Moment - dann, wenn beide unter dem Tisch verschwinden und die Puppen da oben einmal für kurze Zeit einmal alleine sind - in dem sie zwei kurze Sätze tauschen können. Den Rest der Zeit sind sie untergetaucht, in einer anderen Welt. Deshalb verabschieden sie sich auch jedes Mal, wenn das Spiel beginnt, als gingen sie auf eine weite Reise. Werfen sich einen letzten Blick zu und flüstern: »Also dann - bis später!«

Lesen Sie im nächsten Heft Teil 2: Anna Wagner-Fregin

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