Kreuzberger Chronik
Dez. 2018/ 2019 - Ausgabe 205

Herr D.

Der Herr D. und sein Nachbar


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von Hans W. Korfmann

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Von den Freuden des Fernsehens

Der Herr D. wohnte in einem kleinen Haus, in dem sich alle kannten. Wer aber im Nachbarhaus neben ihm, vielleicht keine fünfzig Zentimeter entfernt, schlief und leise durch die zwei dicken Hauswände schnarchte, wusste er nicht.

Eines Tages, in Connis Café, wo sich alle aus der Straße irgendwann trafen, saß er plötzlich mit ihm am Tisch. »Ach, Sie sind das!«, rief der Herr D., als der zottelige Hippie mit den alten Sandalen zu seinem Balkon deutete und sagte: »Da lager ich mein Holz. Der Keller ist ja schon bis unter die Decke voll...«

Sie hatten darüber spekuliert, wie kalt der Winter werden würde nach diesem »Rekordsommer«, von dem die Nachrichten sprachen, als handele es sich um ein Sportereignis und nicht um eine Katastrophe. »Die alte Bauernregel, dass auf einen heißen Sommer ein kalter Winter folgt, gilt jetzt wohl nicht mehr. Aber ich werde meine Holzvorräte lieber behalten! Wegen der drohenden Eiszeit...« ,

Der Herr D. hörte zu und freute sich, dass er einen echten Kreuzberger zum Nachbarn hatte. Sie saßen bis zum Abend, sprachen über die offensichtliche Verarmung der Stadt, stinkende Toiletten und fehlendes Personal in Schulen und Krankenhäusern; die Verwahrlosung der Parkanlagen, der Friedhöfe und Straßen; den Staat, der »seinem Bürger per Gesetz die letzten Cent aus der Tasche stiehlt.«

Der Herr D. war schon sehr müde, als er sich abends in den Fernsehsessel räkelte und Anne Will sah, die einem Politiker das Wort entreißen wollte. Aber der redete weiter: »Zuerst verlangen die von jedem Haushalt eine monatliche Rundfunkgebühr, unabhängig davon, ob in diesem Haushalt jemand fernsieht oder nicht. Anschließend senden sie überall die gleichen Nachrichten, die gleiche Musik und die gleichen Filme. Als nächstes kappen sie die Kabelanschlüsse, womit unsere alten Fernseher von heute auf morgen kein Bild mehr empfangen. Und dann erklären sie unsere neuen Autos für veraltet, weil sie plötzlich zu giftig sind. Das System ist längst kollabiert und wird mit solchen Gesetzen, die uns zu Zwangsabgaben wie der Rundfunkgebühr und zum permanenten Konsum zwingen, nur künstlich am Leben erhalten. Wir leben in keiner Demokratie, wir leben in einer Diktatur. Der Diktatur des Kapitals. Und jeder, der das Gegenteil behauptet, lügt.«

»Bravo!«, rief der Herr D. in seinem Fernsehsessel. »Endlich mal einer, der Tacheles redet.« Immer wieder rief er: »Super!... Sehr gut!... Ganz genau!...« - da begann es über ihm zu rumpeln. Er sah zur Decke, dachte an ein Erdbeben, einen Tsunami, irgendeine dieser neumodischen Naturkatastrophen. Aber dann erinnerte er sich, dass sein Fernseher ja gar kein Bild mehr sendete, und verstand, dass er Anne Will geträumt haben musste. Und dass das Klopfen vom Nachbarn aus dem Nebenhaus kam, der mit Fäusten an die Wand trommelte. •


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