Kreuzberger Chronik
Oktober 2017 - Ausgabe 193

Herr D.

Der Herr D. geht wählen


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. hatte lange mit sich gerungen. Seit Jahrzehnten war er ein konsequenter Nicht-Wähler. Er wäre zehn Kilometer durch die halbe Stadt marschiert, wenn es irgendwo ein Wahllokal mit einem Stimmzettel gegeben hätte, auf dem es ein Kästchen für ihn und die anderen 17 Millionen überzeugter Nichtwähler gegeben hätte. Wenn es ein Kästchen gäbe, hinter dem stünde: Ich bin dagegen!

Der Herr D. überlegte sogar, mit weißer Farbe an sämtlichen Wahllokalen das berühmte Tucholsky-Zitat an die Wand zu schmieren, das er nirgendwo häufiger gesehen hatte als in Kreuzberg: »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst abgeschafft.«

Also hatte er die Wahlbenachrichtigung zerrissen, so wie all die 24 Jahre zuvor auch. Doch am Wahlsonntag lief er los. Nicht, um die fremdenfeindliche Alternative für Deutschland zu verhindern, nicht, um an dieser Wahl voller verlogener Werbeangebote teilzunehmen, sondern wegen Müller, seinem Bürgermeister, und wegen des Volksentscheids. Weil Müller den Flughafen Tegel schließen wollte. Ebenso, wie sein Vorgänger Tempelhof hatte schließen wollen. Um das Grundstück zu verkaufen und Kasse zu machen. Müller hatte vor laufenden Kameras das gleiche gesagt wie zehn Jahre zuvor Wowereit: »Egal, wie der Volksentscheid ausgeht: Der Flughafen wird geschlossen!«

Der Herr D. hatte nichts dagegen, wenn der Flughafen zur Wiese wurde. Er hatte auch nichts gegen neue Wohnungen. Aber er hatte etwas gegen einen demokratisch gewählten Mann, der den Willen seiner Wähler ignorierte und sich über die Demokratie lustig machte. Deshalb machte er sich auf den Weg zum Wahllokal, gleich morgens um acht. Er lief durch den Septemberregen zur Reinhardswald-Schule, schon am Schulzaun hingen die Wegweiser.

»Haben Sie Ihre Wahlbenachrichtigung dabei?«, fragte ihn ein junger Mann streng. Der Herr D. sagte: »Die hab´ ich zerrissen!« – »Und jetzt haben Sie es sich anders überlegt? Das ist löblich, junger Mann!« – »Das ist weder löblich, noch bin ich ein junger Mann!«, sagte der Herr D. – »Haben Sie wenigstens den Ausweis dabei?« Der junge Mann sah ihn noch etwas strenger an. Der Herr D. schob den Ausweis über den Schultisch. »Wir sind für Sie nicht zuständig. Sie müssen gegenüber ins Leibnizgymnasium.«

Am Leibnizgymnasium hingen keine Wegweiser mehr, kein einziger, winziger Zettel wies den Weg. Der Herr D. lief einmal um das gesamte Schulgebäude herum, alle Türen waren fest verschlossen, nirgends drang ein Lichtschimmer in den grauen Septembertag. »Das muss das Schicksal sein!«, murmelte der Herr D. und freute sich, seinem Demokratieverständnis auch nach 24 Jahren treu bleiben zu dürfen. Er wählte kein Übel, auch kein kleineres. •

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