Kreuzberger Chronik
November 2015 - Ausgabe 174

Herr D.

Der Herr D. vor der Wursttheke


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von Hans W. Korfmann

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Was passiert, wenn ein Politiker die Wahrheit sagt.

Der Herr D. hörte und las keine Nachrichten mehr. Er hatte genug schlechte Nachrichten gehört und gelesen. Die Lügen der Politiker und Manager kannte er auch alle auswendig. Die anderen Wiederholungen auch. Erst wochenlang Griechenland, jetzt wochenlang Flüchtlinge. In allen Sendungen und allen Zeitungen. Vor zehn Jahren hatte man nach Berichten über die Flüchtlingsströme suchen müssen, keiner wollte die Bilder von Flüchtlingsbooten und Menschen sehen, die in Spanien oder Italien in Freigehegen gehalten wurden oder versuchten, über meterhohe Mauern zu klettern. Jetzt war es zu spät. Jetzt brachen sie aus.

Der Herr D. las lieber Romane, die weit weg in der Vergangenheit spielten. Deshalb hörte er nicht hin, als sich vor dem Büchertisch eines kleinen Verlages ein Streitgespräch über Flüchtlinge entspann. Er blätterte in aller Ruhe weiter in T. C. Boyles »Wassermusik« , bis es laut wurde. Der Autor mit dem Basecap sah den Mann im Anzug herausfordernd an. Es ging um die Aussage eines Ministers, ein Drittel der syrischen Flüchtlinge käme gar nicht aus Syrien, sondern täusche die Identität nur vor. Nun stritten die Fernsehsender darüber, ob es nicht vielleicht sogar vierzig oder doch nur zwanzig Prozent wären.

»Das ist doch vollkommen egal!« , protestierte der Herr D. »Es sind viele. Und wir sind daran schuld, dass es so viele sind. Wir haben diese Länder Jahrhunderte lang ausgebeutet, ihnen die Grundlage ihrer Existenz geraubt, die Fische vor der Nase weggefischt, das Öl und die Bodenschätze, die Flughäfen und Supermärkte geklaut. Wir haben Kriege angezettelt, um Waffen zu verkaufen. Und jetzt wundern wir uns, wenn die Menschen in ihren Ländern nicht mehr leben können!«

Da sagte der Mann im Anzug: »Sollen sie doch alle mit ihren Schiffen ersaufen!« - »Meinen Sie das ernst?« , fragte der Autor. »Es geht hier doch nur um Geld und um Macht!« , sagte der Anzugträger. »Endlich einer, der sagt, was er denkt!« , rief der Herr D. Im selben Moment flog der Autor mit ausgestreckter Faust auf den Gegner zu.

Eigentlich langweilten den Herr D. diese aufgeregten Diskussionen, aber als er wenige Tage später in der Marheinekehalle an der Wursttheke stand, wo sich bekanntermaßen alle Welt traf, fragte er doch noch mal nach. »Und? Wie ist die Geschichte ausgegangen?«

Der Autor gab sich wortkarg: »Bis fünf Uhr morgens auf der Wache. Das war nämlich ein Staatssekretär. Konnte ich ja nicht wissen. Aber die Bullen waren auf meiner Seite. Nur der Staatssekretär nicht. Anzeige wegen Körperverletzung. Aber heute kam ein Schreiben, man bitte höflichst um die Einstellung des Verfahrens.«

»Angst vor der Presse!«, konstatierte der Herr D. »Das kommt nicht so gut an, wenn ein Staatssekretär sagt, die sollen ersaufen!«

»Genau.« , sagte der Autor. »Das könnte ihn den verdammten Job kosten! Und da steckt er dann doch lieber einen Kinnhaken ein.«

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