Kreuzberger Chronik
Mai 2013 - Ausgabe 147

Herr D.

Der Herr beim Urologen


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von Hans W. Korfmann

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oder
Weshalb der Herr D. seiner Stammkneipe untreu wurde.

Der Herr D. ging zum Urologen. Einmal im Jahr, so wie Frauen zum Gynäkologen gingen, routinemäßig, allein deshalb, weil die Krankenkasse das noch bezahlen musste. Dabei ging der Herr D. eigentlich nicht gern zum Urologen. Er ging ebenso ungern zum Urologen, wie er ungern zum Zahnarzt oder zur Polizei ging. Es machte für ihn keinen Unterschied, ob ein Zahn faul war oder die Blase. Aber wenn er dann beim besagten Facharzt am Schalter stand, wenn er durch die angelehnte Tür des Wartezimmers all die schweigenden, auf ihre Schuhspitzen starrenden, stark ergrauten oder gar haarlosen Männer sah, dann begann er, sich beim Urologen noch ein bisschen unwohler zu fühlen als beim Zahnarzt.

Dann blickte er schüchtern auf die kleinen Broschüren, die in jeder Urologiepraxis stapelweise herumlagen und die Herren der Schöpfung über Inkontinenz und Impotenz aufklärten. Eigentlich fand der Herr D. die Themen gar nicht so uninteressant, aber seit er anlässlich seines ersten Besuches voller Neugierde zum reichhaltigen Broschürenangebot gegriffen und gleich drei Flyer mit ins Wartezimmer zu den schweigenden Herren genommen hatte, zog er es vor, sein Interesse am männlichen Alterungsprozess weniger offenkundig vor sich her zu tragen. Nicht allein, dass er über den Rand seiner spannenden Lektüre hinweg ständig auf die neugierigen Blicke vermeintlicher Leidensgenossen traf, - nein, er wurde beim Verlassen der Ordination auch von der Sprechstundenhilfe zurückgerufen. Der Herr D. überlegte, warum der Urologe nicht einen der üblichen höflichen Berliner Schwulen mit einem Arbeitsplatz beglückt hatte. Stattdessen hatte er eine Blondine ohne Anstand und Mitgefühl eingestellt. Ein Wesen, das über Impotenz nur müde lächeln konnte. Alle hörten, wie sie rief: »Herr D., Sie haben Ihre Broschüren vergessen!«

Das Schlimmste aber war, dass die Praxis des Urologen gleich um die Ecke lag. Und da Kreuzberg ein Dorf war, dauerte es nur wenige Tage, bis der Herr D. von seinem Nachbarn angesprochen wurde. Er sei doch auch in diesem Alter, ob er nicht auch jede Nacht mehrmals zur Toilette müsse...

Da der Nachbar nicht nur im gleichen Haus wohnte, sondern auch im gleichen Lokal verkehrte, fühlte sich der Herr D. fortan bei jedem seiner Toilettengänge im Heidelberger Krug, zu denen ihn die steigenden Temperaturen und der erhöhte Flüssigkeitsbedarf immer häufiger drängten, von neugierigen Augenpaaren verfolgt. Und wenn er sich umsah in seinem geliebten Lokal, dann kam es ihm mit seinen ergrauten, teilweise gänzlich haupthaarlosen Gestalten plötzlich vor wie ein Altersheim, und es dauerte nicht lange, da fühlte er sich dort so wohl wie in der Praxis des Urologen. So war es nur verständlich, wenn der Herr D. seinem Stammlokal untreu wurde. Dem Urologen aber hielt er die Treue. Damit nicht auch in anderen Stadtteilen die Kunde von der Impotenz des Herrn D. die Runde machte. •




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