Kreuzberger Chronik
November 2008 - Ausgabe 102

Herr D.

Herr D. revidiert ein Vorurteil


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. war nicht sechzehn. Wenn er ein Urteil gefällt hatte, dann ließ sich das nur schwer revidieren. Und sein Urteil über Schrebergärten war alt. Schon in jugendlichen Jahren sah er in den Siedlungen mit ihren merkwürdigen Namen, ihren Fähnchen, Schildern und regeln die Ausgeburt kleinbürgerlicher Zufriedenheit.

In jüngster Zeit allerdings häuften sich die Einladungen in die Reservate, was der Herr D. zunächst der fortschreitenden Senilität in seinem nicht jünger werdenden Bekanntenkreis zuschrieb. Dann aber sah er ein, dass nicht allein die Sehnsucht nach den Relikten der Natur für die Renaissance der Schrebergartenkultur verantwortlich war, sondern dass die Berliner in ihren Refugien den steigenden Bierpreisen der städtischen Biergärten Paroli boten. Außerdem lagen die Gärten seiner Freunde nicht mehr im grüngrauen Niemandsland zwischen Bahngleisen und Sozialbauten, sondern in reizvollen Lagen auf Inseln im Wannsee.

Als man also den Herrn D. kürzlich zum Grillen in eine Kolonie am Tempelhofer Flughafen einlud, sagte er zu. Ohnehin hatte er noch einmal den Blick über die riesige Grünfläche schweifen lassen wollen, im Hintergrund die Silhouette der Stadt. Wahrscheinlich schon bald würde man mit der Bebauung beginnen.

Es war ein sonniger Spätsommersonntag, der Grill rauchte, die Bierflaschen lagen in einer Badewanne mit Eis. Gerade war ein Flugzeug dicht über sie hinweg geflogen, da vernahm der Herr D. hinter sich ein unüberhörbares »Plopp«. Als er sich umdrehte, lag dort ein Scheinwerfer. »Ach, das passiert hier öfter mal«, sagte der Schrebergartenbesitzer und winkte den Herrn D. in die Holzhütte. Dort lag ein zweiter Scheinwerfer. Offensichtlich waren die Leuchten der Flieger weniger gut befestigt als die Triebwerke. Triebwerke seien noch keine im Garten gelandet, sagte der Schrebergärtner, aber die Siedler am Flughafen hätten schon diverse Flugzeugteile auf ihren Schollen gefunden, nicht nur Schrauben und Nieten, auch größere Teile der Verkleidung.

Herr D. dachte an die Flugzeugkatastrophe von Madrid. Schlampigkeit war die Ursache. Die meisten dieser Katastrophen waren auf mangelnde Sorgfalt zurückzuführen. Auf profitbedingte Eile. Auf den Druck, den die Arbeitgeber auf die Arbeitnehmer ausübten. Den Piloten der Lüfte ging es nicht anders als den Kapitänen zu Wasser und den Helden der Landstraße. Wenn sie nicht pünktlich waren und Verzögerungen verursachten, dann flogen sie raus. Auch der Pilot in Spanien an jenem unheilvollen Tag flog vielleicht nur, weil er Angst hatte zu fliegen.

»Ist doch eh klar!«, sagte der Gärtner. »Fluggesellschaften sind der pure Kapitalismus! Nur hier unten, im Garten, da herrscht noch Anarchie. Prost!« An diesem Tag also revidierte der Herr D. sein Urteil über die deutschen Schrebergärtner. •

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