Kreuzberger Chronik
Juni 2008 - Ausgabe 98

Herr D.

Herr D. wird erkannt


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von Hans W. Korfmann

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Was, Sie sind der Herr D.?« Herr D. lächelte. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Seit Jahren schrieb er Leserbriefe an alle möglichen Zeitungen, und nie hatte er eine Antwort erhalten, nie hatte ihn jemand erkannt und angesprochen. »Genau so hab ich mir Sie vorgestellt«, sagte der Mann mit dem Skatblatt in der Hand und dem Zigarrenstumpen im Mundwinkel. Herr D. legte lässig den Arm auf den Tresen und wandte dem Kartenspieler halb den Rücken zu. So wie Revolverhelden, die mit einem Auge ihre pokerspielenden Gegner im Auge behalten und mit dem anderen die Schweißperlen auf der Stirn des Wirts zählen, der um das Inventar seines Saloons fürchtet.

Der Mann mit dem Zigarrenstumpen im Mundwinkel sah Herrn D. herausfordernd an. Der aber nahm allen Mut zusammen und sagte: »Was meinen Sie mit ›genau so‹?« – »Genau so zerknirscht«, sagte der andere. Jetzt lächelte Herr D. nicht mehr. Er sagte: »Die einen sehen zerknirscht aus, die andern sind es. Die einen spielen Karten, die anderen haben eine Meinung.« – »Ach Quatsch, Sie sind doch nur ein komischer Kauz«, sagte der Kartenspieler. »Immer nur schlecht gelaunt. Das ist doch keine Meinung. Immer nur dagegen. Wie die Linken. Hauptsache Protest.« Dann warf er ein Ass auf den Tisch.

Herr D. dachte nach. Der Mann hatte Recht. Herr D., jahrzehntelang ein unauffälliger, braver Beamter in Bonn, den nur der Regierungswechsel nach Berlin verschlagen hatte, den es nie in ein Viertel wie Kreuzberg gezogen hätte, war tatsächlich ein komischer, alter Kauz geworden. Immer nur am Meckern. Vom ersten Augenblick an. Von jenem Tag an, als ihn im Januar 2001 vor dem Reichstag der Chauffeur eines Ministers mit seinem Mercedes touchierte und fast von seinem alten Fahrrad gestürzt hätte. Worauf der Chauffeur ausstieg und um das Auto herumstolzierte, um nachzusehen, ob die glänzende Karosse eventuell einen Kratzer abbekommen hätte. Wortlos, und ohne einen einzigen Blick auf den verdatterten Herrn D. zu werfen, stieg er wieder ein und fuhr davon.

Das war nur eine von vielen wahren Geschichten, die der Herr D. seit dem Umzug erlebt hatte. Aber dieses Erlebnis war ein Schlüsselerlebnis. Denn eine solche Unhöflichkeit hätte es in Bonn nicht gegeben, und deshalb wurde der Herr D. erst in der Hauptstadt und mit dreißigjähriger Verspätung aufmüpfig. Er protestierte nun regelmäßig, schrieb unzählige Leserbriefe gegen das Benehmen von Postboten oder arbeitslosen Hausmeistern, gegen die krankhafte Expansion der Haustierhaltung in Berlin oder gegen CDs, die den vereinsamten Singles die Geräusche eines Mitbewohners vorspielten. Sogar gegen das schlechte Wetter zog er zu Felde und gab dafür niemand anderem als den Amerikanern die Schuld. Herr D. wurde zum echten Kreuzberger.

Am Tisch wurden die Karten neu gemischt. Der Kartenspieler sagte: »Wenn Sie wirklich etwas zu sagen hätten, dann würden Sie über Politik reden und nicht über die Eigenarten von Hausmeistern. Was gibt es denn über Hausmeister zu diskutieren?« Da mischte sich eine nette kleine Dame ins Gespräch: »Und er soll nicht immer nur drumherumreden. Das machen nämlich alle, Presse, Politiker, immer nur drumherumreden. So funktioniert Demokratie nicht …« – »Der sagt doch, was er meint«, schaltete sich ein Vierter ein. »Haben Sie nicht gelesen, was er zum Flughafen Tempelhof geschrieben hat?« – »Genau«, sagte der Kartenspieler und drückte den stinkenden Stumpen aus. »So ein Schwachsinn«. Herr D. stand am Tresen und hörte zu. Funktioniert doch, dachte er.


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