Kreuzberger Chronik
November 2006 - Ausgabe 82

Herr D.

Herr D. irrt


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. erinnerte sich noch gut daran, wie er zum ersten Mal durch diesen Park gegangen war. Er fragte nach dem Weg, und da sagte man ihm: »Sie müssen nur einmal quer durch den Viktoriapark, dann sind Sie da!« Und als er dann unter den hohen Bäumen, deren Schatten so angenehm kühl war, und über die kleine Brücke schritt, die über einen Wasserfall führte, wünschte er sich nichts anderes, als daß die annoncierten Zimmer gleich am Ende dieses Wäldchens liegen würden. Und da lagen sie auch. Herr D. zog sofort ein.

Er war zufrieden am Parkrand im ersten Sommer. Immer wehte aus dem Wäldchen ein kühler Wind, Menschen waren auf den Wiesen und grillten oder lasen oder warfen Frisbeescheiben durch die Luft, nachts ertönten vom Berg leise die Trommeln. Im Herbst ließ man auf dem Berg die Drachen steigen, im Winter tönten die hellen Stimmen rodelnder Kinder durch die dünne Luft.

Eines Tages aber erschütterte ihn die Geschichte von dem torsolosen Kopf, der in seinem Park gefunden wurde. Auch als er von der Vergewaltigung hörte, die nicht weit von der Straße stattgefunden hatte, reagierte Herr D. verstört. Und als eine Freundin ihm erzählte, daß sie gerade ihren fünfzigsten Geburtstag in der Villa am Kreuzberg feierte, als plötzlich eine wilde Schießerei ausbrach und ihr Auto durchsiebt wurde wie sonst nur in schlechten Krimis, da begann er, sein idyllisches Parkbild zu revidieren.

Deshalb war es verständlich, daß Herr D. sofort an ein Verbrechen dachte, als er eine damenlose Damenhandtasche auf der Treppe zum Spielplatz fand. Er untersuchte sie augenblicklich und zog einen Paß, einen Schlüssel, ein Notizbuch und ein Tagebuch hervor. Im Notizbuch standen Name und Adresse der Besitzerin, aber auch vier Telefonnummern. Herr D. probierte sie alle durch, doch die Nummern waren entweder nicht existent oder es lief ein Band. Er hinterließ die Nachricht, daß er die Tasche einer Frau namens Jutta Mayer gefunden habe, aber niemand meldete sich. Nicht an diesem Tag, und auch nicht am nächsten Tag. Auf den Brief, den er an die Kreuzberger Adresse aus dem Notizbuch schickte, meldete sich niemand.

Herr D. war sich sicher, einem Kapitalverbrechen auf der Spur zu sein. Aber er hatte keine Lust auf diese Fragen und diese Gesichter der Polizei. Schließlich würde Jutta von den Fragen wahrscheinlich auch nicht mehr lebendig, dachte Herr D. Also studierte er aufmerksam die Zeitungen, immer auf der Suche nach einem Lebenszeichen oder einer Leiche namens Jutta Mayer. Doch nirgends eine Spur, nirgends ein Hoffnungsschimmer. Bis eines Tages, drei Wochen später, das Telefon klingelte. Jutta hatte eine quicklebendige Stimme, sie kam gerade aus dem Urlaub zurück, vier Wochen Toskana, mit Freunden. Am Abend, bevor sie in den Zug gestiegen seien, habe sie mit Freunden auf dem Kreuzberg gesessen und Gitarre gespielt, und plötzlich hätten zwei Taschen gefehlt. Sie hätten noch die halbe Nacht gesucht. Dann fragte sie, fast ein bißchen schüchtern, ob denn das Tagebuch noch da sei. Da seien Aufzeichnungen aus einem halben Jahr drin, die seien ihr sehr wichtig. Herr D. zählte auf, was er gefunden hatte, und da brach sie in Jubel aus. Wegen des Tagebuches. Dem Geld, das verschwunden war, schien sie nicht nachzutrauern.

Als Herr D. auflegte, dachte er sich, daß der Park vielleicht doch nicht so schlimm war. Immerhin hatten die Diebe ihr den Paß und das Tagebuch und die Schlüssel gelassen. Und außerdem versammelten sich im Park nicht nur Diebe, sondern auch sympathische junge Leute. Denen ihre persönlichen Aufzeichnungen noch weitaus mehr bedeuteten als ein paar Euro.


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