Kreuzberger Chronik
November 2005 - Ausgabe 72

Herr D.

Herr D. hat Verkehr


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von Hans W. Korfmann

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»Onkel, ist das überhaupt ein richtiger Kindersitz?«  »Na klar ist das ein Kindersitz, in dem hab ja ich schon gesessen, so lange ist das schon ein Kindersitz!«  »Aber Onkel, der hat ja gar keinen Gurt!«  >»Es gibt auch Kindersitze ohne Gurt, mein Kurt!« sagte Herr D. »Ich heiße gar nicht Kurt!«, sagte Paul. Irgendwie paßte es Herrn D. nicht, daß seine Familie immer das Kind bei ihm deponierte, wenn sie nach Berlin kamen, um einmal mehr die Mauer zu suchen.

Radelnd passierten Onkel und Neffe das Kanzleramt, das gar nicht wie ein Schloß aussah, obwohl Herr D. doch gesagt hatte, hier würden die Könige und die Königinnen wohnen. Dann näherten sie sich den vielen Kränen, die über dem alten Lehrter Bahnhof ihre Runden drehten, der so lange unter Denkmalschutz gestanden hatte, bis man auf die Idee kam, einen gigantischen Hauptbahnhof für die neue Hauptstadt zu bauen. Worauf man den Denkmalgeschützten kurzerhand dem Erdboden gleichmachte. Herr D. wechselte von der rechten auf die linke Straßenseite, da der Radweg dort frisch asphaltiert war und der Neffe auf der anderen Seite besser sehen konnte.

Da tauchte am Horizont ein Radfahrer auf. Als er auf etwa 50 Meter herangekommen war, senkte er den Kopf und steuerte geradlinig auf Herrn D. zu. Auch als die Entfernung zwischen den beiden Radfahrern auf 20 Meter geschrumpft war, erweckte der Entgegenkommende nicht den Eindruck, als wolle er dem Geisterfahrer D. ausweichen. Herr D. bremste, fuhr an die Seite, drohte mit erhobener Faust und rief: »Vollidiot! Sehen Sie nicht, daß ich ein Kind dabeihabe?«.

Da drehte sich der andere um, radelte zurück und blieb einen Meter vor Herrn D. stehen: »Und deshalb glauben Sie, tun und lassen zu können, was Sie wollen? Nur wegen dem Gör! Die haben sowieso überall Vorfahrt, diese Gören. ABER IHRE FAHRBAHN IST DA DRÜBEN!« 

Herr D. haßte diese Ritter der Straßenverkehrsordnung. Diese engstirnigen Ordnungsfanatiker. Diese geistig beschränkten Paragraphenreiter, die schon nach der Polizei rufen, wenn man beim sanften Touchieren ihrer glänzenden Karosse den Spiegel ein bißchen verstellt hatte. »Wissen Sie was?« rief Herr D.: »Ohne solche ständigen Aufpasser wie Sie hätte der Faschismus in Deutschland keine Chance gehabt! Und ohne diese deutsche Verräternatur wären nur halb so viele Juden im KZ umgekommen. Und jetzt sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen, sie ostbirniger Flegel, sonst erstatte nämlich ich Anzeige, und zwar nicht wegen eines lächerlichen Verkehrsdeliktes, sondern wegen Gefährdung der Öffentlichkeit!«

Damit hatte der andere nicht gerechnet. Er verstummte. Unbehelligt fuhr Herr D. weiter in Richtung See. Bis an seiner Seite eine Polizeistreife auftauchte, ihn eine Weile im gleichen Tempo eskortierte und dann ein Fenster herunterkurbelte. Herr D. rief: »Glauben Sie diesem Straßenverkehrsordnungsfetischisten kein Wort!« Aber der Beamte insistierte, daß Herr D. anhielt. Sie grüßten den Neffen, gingen einmal ums Rad herum und sagten dann: »Dieser Kindersitz da, der hat ja gar keinen Gurt!«  »Hab ich auch gesagt!«, sagte der Neffe. Herr D. überlegte, ob er das mit den Faschisten und den vielen Verrätern und Aufpassern nochmal erzählen sollte, entschied sich jedoch fürs Schweigen und zahlte bar.


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