Kreuzberger Chronik
Juni 2004 - Ausgabe 58

Herr D.

Herr D. demonstriert


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von Hans W. Korfmann

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Nicht, daß Herr D. den 140er liebte. Im Gegenteil, er ärgerte sich ständig über die taktlosen Verspätungen und die rüden Manieren der Busfahrer. Aber als er am Kiosk bei der Dicken seine Zeitung holen wollte und die Unterschriftenliste dort liegen sah, ärgerte er sich noch mehr. Der 140er sollte gestrichen werden, und die Kreuzberger rebellierten. Sofort unterschrieb auch Herr D. das Schreiben an den Verkehrssenator.

Genaues wußte die Zeitungsverkäuferin jedoch nicht zu berichten. Nur, daß schon einige hundert Anwohner fluchend ihre Unterschrift unter das Protestschreiben gesetzt hatten. Auch sie war der festen Überzeugung, daß die Bushaltestelle vor ihrer Haustüre ihr gutes Recht sei, und Herr D. verstand nach einem Seitenblick auf ihre geschwollenen unteren Gliedmaße ihre berechtigte, wenn auch sehr persönliche Sorge. Einige Wochen später aber erfuhr er aus einem Lokalblättchen, das sich immer wieder in seinem Briefkasten fand, daß die Aufregung der zur Rebellion neigenden Kreuzberger wohl etwas voreilig gewesen war. Im Grunde betraf die Streckenkürzung die protestierenden Anwohner kaum, denn lediglich das letzte Stück der kurvenreichen Strecke ins wenig attraktive Tempelhof sollte gekappt werden. Die Haltestelle der Protestierenden blieb erhalten.

Doch einmal auf die Barrikaden gestiegen, kletterten die Kreuzberger so schnell nicht wieder herunter. Punkt 16 Uhr wollte man eine Kreuzung in Kreuzberg blockieren, um auf die fahrgastverachtende Politik der Berliner Verkehrsbetriebe aufmerksam zu machen. Und die Rentner waren pünktlich wie immer. Auch die beiden Muslime mit den Kopftüchern und die Rollstuhlfahrerin. Zehn Minuten vor vier standen die Rebellierenden in kleinen Grüppchen gleichmäßig auf alle vier Ecken der Kreuzung verteilt und warteten plaudernd darauf, daß etwas geschehe. Die Erwartungen der Polizei dagegen hielten sich in Grenzen, lediglich zwei Streifenwagen hatten auf dem Gehweg geparkt, daneben ein Aufsichtswagen der BVG und zwei Kontaktbereichsbeamte in grünen Strickpullovern, die sich die Zeit damit vertrieben, Fahrradfahrer auf den Gehwegen zum Absteigen zu ermahnen und Frauen in sommerlicher Kleidung nachzuschauen.

Von der Kreuzberger Revolte fand Herr D. keine Spur. Selbst als der Initiator des Protestes auf die Mauer stieg und das Mikrofon einschaltete, rückten die im Demonstrieren ungeübten Rentner nur zaghaft zusammen. Und während sich der Redner mit dem Baseballkäppi, dem Bierbauch und der Krücke unter dem Arm darüber beschwerte, daß die BVG mehr verdient hätte als nur hundert Protestler, begannen die alten Damen und Herren bereits mit dem üblichen Gedankenaustausch über Arthrose und Praxisgebühren. Herr D. verstand: Was die Menschen auf der Kreuzberger Kreuzung verband, war nicht der Protest gegen die Verkehrspolitik des Senats, sondern der gemeinsame Weg zum St.-Joseph-Krankenhaus, das an der gestrichenen Linie des 140ers liegt.

Zehn Minuten nach vier verließen die Streifenwagen die Kreuzung. Lediglich die in die Jahre gekommenen Kontaktbereichsbeamten blieben noch ein bißchen: Um Viertel nach vier räumte schließlich auch die Aufsicht der BVG das Kampffeld. Widerstand gegen die Staatsgewalt oder die Verkehrsbetriebe war nicht zu erwarten. Dazu gehört eben mehr als nur eine Arthrose oder die dicken Beine einer Zigarettenverkäuferin. <br>

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