Kreuzberger Chronik
September 2003 - Ausgabe 50

Herr D.

Herr D. beim Marathon


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von Hans W. Korfmann

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Eigentlich stand Herr D. auf dem knapp formulierten Standpunkt: Sport ist Mord. Und was die Großstadtjogger anging, die dem passionierten Fahrradfahrer auf dem Weg zur Arbeitsstätte in die Quere trabten, so hielt er für die Gesundheitsfanatiker stets einige Flüche bereit.

Da jedoch eine ganze Reihe von Kollegen an diesem Sonntag mit an den Start gingen, und da er in dem Pulk von 35000 Läufern nicht befürchten mußte, von neugierigen Kameraaugen aufgegriffen zu werden, die dann in der Tagesschau bundesweit einen hechelnden Herrn D. zeigen würden, fand auch er sich pünktlich um 8 am Hohenzollerndamm ein, wo der forcierte Völkermarsch seinen Lauf nahm. Zum 29. Mal.

Enttäuscht wurde Herr D. schon beim Start. Zwar war er im vergangenen Jahr, als er noch unter den Zuschauern stand, hoch erfreut, als er diese Manifestation der Zweiklassengesellschaft sah, diesen Pulk schwarzer Läufer vom afrikanischen Kontinent, der dem Rest der Welt leichtfüßig und viele Minuten vorantrabte, aber daß man ihn schon an der Startlinie gleich ein paar hundert Meter nach hinten weiterreichte, empfand er als ungerecht. Als D. endlich in Trab verfallen konnte, waren die Afrikaner wahrscheinlich schon Unter den Linden.
Andererseits hatte Herr D. sich vorgenommen, den Berlin-Marathon weniger als sportliche Höchstleistung, sondern als einen ausgedehnten Stadtrundgang zu betrachten. Bis zum Kilometer 4 – Unter den Linden – konnte er an diesem Standpunkt festhalten. Doch schon bei Kilometer 6, als er am Alexanderplatz eine ziemlich korpulente Dame an sich vorüberziehen lassen mußte, überkamen ihn Zweifel. Und als am Schöneberger Rathaus bei Kilometer 10 dieser Typ mit dem Kopfhörer und dem lächerlichen Regenschirmchen über seinem Haupt an ihm vorüberzog, dachte er zum ersten Mal an Umkehr.

Aber wie sollte man in dieser rennenden Meute anhalten? Wohin ausscheren, wenn rechts und links der Straße das grölende Volk stand? Wie sich unter den Blicken aller unauffällig aus der Affäre ziehen? Und am Ende war dann doch irgendwo eine versteckte Kamera, und in Köln würden sich die alten Freunde auf die Schenkel klopfen. Sport ist Mord, dachte D. und trabte weiter, in leicht gedrosseltem Tempo, vorbei am Potsdamer Platz, schluckte gierig aus den Wasserbechern, die ihm Streckenposten und Bundeswehrsoldaten von Zeit zu Zeit entgegenstreckten, oder er griff sich eine Banane, die der Schirmherr Schröder gesponsert hatte. Am Straßenrand standen immer mehr Menschen, sonntägliche Spätaufsteher, die höhnisch Beifall klatschten, Bier tranken und Würstchen aßen, während 60 Musikkapellen und Jazzbands vor den Lokalen spielten und aus den Fenstern dicke Berliner dem Herrn D. entgegentröteten. Ihm lief der Schweiß.

Bei Kilometer 17 wollte er aufgeben, aber dann sah er, wie am Kottbusser Damm kleine Grüppchen vom Parcour abwichen. D., von einem sicheren Instinkt getrieben, folgte den Deserteuren auf einem Schleichweg zwischen Spielplätzen und Hinterhöfen hindurch ins Unterholz, und als er vor den Büschen die unzähligen Paare strammer Männerwaden stehen sah, reihte er sich erleichtert ein und ließ den letzten Rest Körperflüssigkeit auf die Blätter rauschen. Bei Kilometer 21, gleich neben dem Palast der Telekom, mischten sie sich dann unauffällig wieder unter die Meute. D. rechnete sich aus, daß sie 4 Kilometer gespart hatten.
Doch noch lagen 13 Kilometer vor Herrn D., und als er zum zweiten Mal diesen Läufer mit dem Regenschirm über seinem Haupt an sich vorüberziehen sah, verlor er endgültig die Lust. Nicht länger als eine Sekunde lang spielte er wenig später mit dem Gedanken, seinem Vordermann zu folgen, der sich plötzlich aus dem Pulk löste, ihm noch einmal zuwinkte und trabend in »Erikas Eckkneipe« verschwand! Dann war die Entscheidung gefallen. Für »Erikas Eckkneipe«. <br>

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