Kreuzberger Chronik
Oktober 2003 - Ausgabe 51

Herr D.

Herr D. und Frau Mistel


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. saß im Büro und wollte gerade einschlafen, da klingelte das Telefon. Sein Sohn war am Apparat. Sein Sohn rief sonst eigentlich nur zum Geburtstag an. Zu seinem eigenen.
»Papa, ich bin in Italien, sie haben mir das Geld geklaut. Kannst du mir was schicken?« Herr D. gähnte. »Wohin?« – »Marina di Carrara.« – »Wo ist das denn?« – »Weiß nicht. Aber es geht ganz einfach. Du brauchst nur zur Postbank gehen und einzahlen. Fünf Minuten später zahlt man mir’s aus.« – »Wer zahlt aus?« – »Western Union.«
Für einen Augenblick sah Herr D. Cowboys, die Hüte tief ins Gesicht gezogen, auf Pferden die staubige Landstraße entlangreiten, Geldbündel in den Satteltaschen, irgendwo heulte die Lokomotive eines Zuges. Die Geldübergabe fand auf einer verlassenen, von gigantischen Kakteen umstandenen Bahnstation statt. »Okay, dann werde ich mich mal in den Sattel schwingen«, sagte Herr D. »Danke Papa«, sagte sein Sohn.

Herr D. gab seinem Stahlroß die Sporen, erreichte nach wildem Ritt die Postfiliale am Marheinekeplatz und wollte gerade sein Rad abstellen, als ihn eine zweite Halluzination überraschte: Die gewaltigen Fahrräder der Postler waren nicht mehr gelb, sondern blau! Zielstrebig, wenn auch etwas steifbeinig vom langen Ritt, betrat er den Schalterraum.
»Meinem Sohn haben sie das Portemonnaie geklaut. Ich möchte Geld nach Italien schicken!«, sagte Herr D. Die Frau in der hellblauen Bluse zog die Stirn in unhübsche Falten, Herr D.s Blick glitt auf ihre rechte Brust. Dort stand auf einem dunkelblauen Schild der Name »Mistel«. Herr D. erinnerte sich an die blauen Fahrräder, die er draußen gesehen hatte. Wahrscheinlich litt die Post unter einem Innovationsschub. Vielleicht würden sie als nächstes die Postkästen blau anmalen. Damit die Fahrradfahrer sie nachts besser erkennen konnten.

Die Frau hielt ein Formular in die Höhe: »Bitte deutlich ausfüllen«. Herr D. füllte aus. »Und hier unten noch die genaue Anschrift eintragen!« Herr D. trug die genaue Anschrift ein. »Und unterschreiben.«

Eine Stunde später – Herr D. an seinem Schreibtisch war gerade eingeschlafen – klingelte das Telefon. Sein Sohn. Man wollte ihm das Geld nicht aushändigen. Ländercode 6913. Die Bank hatte das Geld nicht nach Italien, sondern nach Deutschland geschickt. Herr D. schwang sich aufs Fahrrad.
Die Mistel von der Post sah ihn kurz an: »Ich hab mich schon gewundert, daß Sie da eine deutsche Adresse draufgeschrieben haben. Sie müssen natürlich die italienische Adresse eintragen.« – »Warum haben Sie dann nichts gesagt?«, fragte Herr D. und beobachtete, wie nebenan Buntstifte und Radiergummis über den Ladentisch gingen und wie die Mistel von der Post sehnsüchtig hinüberblickte. Herr D. sah ein: Die Mistel von der Post war eigentlich eine Mistel von McPaper. Man hatte ihr nur ein blaues Hemd übergezogen. Sie war ein Opfer der Fusion. Es sah aus, als würde die ehemalige Verkäuferin aus der Schreibwarenabteilung von Karstadt jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Hilfesuchend rief sie nach der Chefin. Die Chefin entschied: »Unser Fehler war das nicht. Wir müssen das nochmal schicken. Kostet nochmal 20 Euro. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?« Hatte Herr D. nicht. Herr D. schwang sich aufs Rad.

Als er zum dritten Mal an diesem Tag die Filiale von Post & Papier betrat, lächelte niemand mehr. Man hatte inzwischen herausgefunden, daß das Formular ordnungsgemäß ausgefüllt war, nur der Ländercode stimmte nicht. Es war bereits sechs, Herr D. hatte die Stiefel auf dem häuslichen Tisch überkreuzt und einen Whiskey in der Rechten, da klingelte das Telefon. Am andern Ende war die Mistel. Er müsse leider noch einmal vorbeikommen. Es fehle eine Unterschrift. D. schwang sich in den Sattel und träumte von galoppierenden Cowboys, Satteltaschen voller Geld – und rauchenden Colts.
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