Kreuzberger Chronik
November 2003 - Ausgabe 52

Herr D.

Herr D. und die Maler


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von Hans W. Korfmann

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»Nimm den!«, hatte sein Kollege zu ihm gesagt, »das ist kein Pole und kein Türke. Das ist nur einer aus dem Osten. Ein Profi!« Herr D. hatte gezögert, diesen Kalle anzurufen. Er wollte eigentlich keinen Profi, er wollte einen, der sich noch freute über den Job, dem er zu Mittag ein paar Stullen und ein Bier hinstellen konnte wie seine Oma es immer getan hatte. Einen Mann, der morgens um sieben mit einem Farbeimer, einer Rolle und einem freundlichen Lächeln in der Tür stand. Kalle aber war ausgebucht bis September.

Und dieser Kalle stand dann auch nicht um sieben, sondern erst um zehn Uhr in der Tür. Um sechs allerdings hatte es schon einmal bei Herrn D. geklingelt. Das war der Pole, der für Kalle arbeitete. Für fünf Euro die Stunde. Herr Kalle kam jeden Morgen um zehn, brachte neue Farbe, schimpfte ein bißchen mit dem Polen, führte ein kurzes Anstandsgespräch, furzte schamlos wie ein Maurer und verschwand dann wieder.

Als Herr D. zu Mittag Wurst und Brot und Bier auf den Tisch stellte, schüttelte der Pole den Kopf. Er müsse bis vier Uhr hier fertig sein, der Chef hätte noch drei andere Baustellen, eine in Moabit und zwei in Charlottenburg. Da ließe er aber nur seine Ossis ran.

Herr D. saß allein mit seiner Wurst am Tisch und dachte nach. Nicht mal das Bier wollte der Pole trinken. »Das ist ja schlimmer als auf dem Bau«, rief Herr D. hinüber. »Ja, wie im Bau«, sagte der Pole. Der Pole also sprach nicht viel, aß nicht viel und trank nicht viel. Aber er arbeitete viel. Jeden Morgen um sechs stand er in der Tür, und um halb vier packte er zusammen, kehrte, wischte, polierte mit dem Daumen, hinterließ nicht ein einziges Krümelchen einer Spur von Schwarzarbeit.

Jeden Nachmittag, pünktlich um halb vier, stand auch Kalle wieder in der Tür, trank die offerierte Tasse Kaffee und sah seinem Arbeiter beim Zusammenpacken zu. Nie berührte er ein Werkzeug. Er saß dick und fett wie eine Karikatur aus sozialistischen Schulbüchern auf Herrn D.s Küchenstuhl, verlangte nach einem Aschenbecher, rauchte in fünf Minuten fünf HB und verschwand mitsamt dem Polen. Lediglich am letzten Tag blieb er etwas länger. »Wissen Sie, das ist kein Land zum Leben. Bei uns, wissen Sie, bei uns hat keiner gehungert! Da stand auch keiner auf der Straße, da gab es für jeden Arbeit. Und wenn es keine gab, dann wurde eben eine geschaffen. Damit keiner auf dumme Gedanken kam. Da gab es keine Arbeitslosen mit Bierpullen auf der Parkbank, und auch keine Leute mit Ringen in der Nase.« Kalle fuhr fort: »Wissen Sie eigentlich, was wir verdient haben? Wie reich wir waren? Wir hatten alles! Wir hatten zwar kein Geld, aber sonst hatten wir alles: Wohnung, Fernseher, Auto, Urlaub. Es fehlte uns an nichts! Es wollte ja auch gar niemand rüber, wie sie im Westen immer alle erzählen. Wir wollten nur mal nachsehen – und dann schleunigst wieder zurück.«

Herr D. hatte das ja alles schon einmal gehört, doch noch nie so komprimiert. Und wären da nicht diese Bilder jener Menschen gewesen, die damals über die Grenze drängten, freudestrahlend oder heulend, und die nicht den Eindruck erweckt hatten, als wolle hier jemand der BRD nur einen kurzen Besuch abstatten – er hätte diesem DDR-Veteran wahrscheinlich jedes Wort geglaubt.

»Aber es geht Ihnen doch hier auch nicht so schlecht«, versuchte Herr D. zum Schluß zu besänftigen. »Ja, weil ich arbeite«, sagte Kalle und warf einen Blick auf seinen Polen, der mit der Werkzeugtasche in der Tür stand. »Weil ich mir Mühe gebe. Weil ich mich nicht auf meinem fetten Kapitalistenarsch ausruhe.« Sagte Kalle und zählte die Scheine, während ihm ein letzter Furz entfuhr. <br>

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