Kreuzberger Chronik
Juni 2017 - Ausgabe 190

Kreuzberger
Mustafa Akça

Man muss zu den Leuten hingehen


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: John Colton

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Man muss zu den Leuten hingehen!

Mustafa Akça braucht keinen Erzähler. Er ist selbst ein guter Erzähler. Das Talent hat er von den Großvätern. Sie waren Meister der Anekdote. Im Winter, wenn sie in dem kleinen anatolischen Dorf wenig zu tun hatten und alle um den Ofen saßen und erzählten, klebten die Zuhörer an ihren Lippen, als wären sie Märchenerzähler. Und ein bisschen ist das auch noch so, wenn Mustafa erzählt. Obwohl er oft noch nicht genau weiß, wo der Satz oder die Geschichte endet, wenn er beginnt, obwohl er manchmal eine Pause einlegen und kurz nachdenken muss, bevor er weiterspricht. Denn sobald er zu sprechen oder zu denken beginnt, tauchen an der Peripherie seines Leitgedankens schon wieder neue, ebenso erzählenswerte Episoden auf. Das Leben ist eine Fülle von Erlebnissen. Besonders seines. Und deshalb hängen sie an seinen Lippen.

Mustafa Akça erzählt auch keine alten Geschichten. Wenn er von dem Spiel Türkiyemspor gegen Tennis Borussia erzählt, das immerhin schon 26 Jahre zurückliegt, dann hört sich das an, als wäre es gestern gewesen. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, die Stimme zittert vor Trauer, wenn er zurückdenkt, wie das einmal war. Wenn er erzählt, verschmelzen Gegenwart und Vergangenheit. Vor allem, wenn es um Fußball geht:

»Da ist viel kaputt gegangen mit den Satellitenschüsseln. Früher waren alle da, wenn Türkiyemspor spielte, heute sitzen sie vor dem Fernseher. Wenn ich daran denke, als die 1991 aufsteigen sollten in die Zweite Liga! Wir waren sicher, dass wir das schaffen würden, sogar der Lehrer von der Oberschule war da, der Wirt vom Matto, Onkel Naci und Onkel Faik, Onkel Ferhat und Manni aus dem vierten Stock. Das war ein Erlebnis, und als die dann verloren haben! Das hatte einen echten Sprung in der Türkisch-Kreuzberger Seele hinterlassen! Keiner sagte mehr was, die gingen alle schweigend auseinander zurück in ihre Wohnungen und trafen sich erst Wochen später wieder. Mit gesenktem Haupt.«

Mustafa gehört zur dritten Generation türkischer Berlin-Einwanderer. Seine Großmutter gehörte zur ersten. Sie hatte eine gut bezahlte Stelle als Pflegekraft im Krankenhaus, »sie hat ihr ganzes Leben im Krankenhaus verbracht.« Ihre Tochter - Mustafas Mutter - arbeitete in der Schokoladenfabrik von Trumpf. »Ich habe das Gefühl, dass unsere Familie Glück gehabt hat. Trotzdem waren wir immer auf der Hut. Mein Vater sagte: Junge, lerne bloß was Ordentliches, man weiß nie, wie lange uns die Deutschen noch aushalten! - Also hab ich Gas, Wasser, Sonnenschein, wie unser Meister immer sagte, gelernt, also Löten, Schweißen, Schrauben.« Und ein paar Jahre später, als man vor der Frage stand, ob Mustafa nun eigentlich einen türkischen Pass brauche, sagte der Vater abermals: Es ist besser, wenn du auch einen
Foto: Privat
türkischen Pass hast. Man weiß nie, wie lange wir noch hier bleiben können. So prägte die Sorge, irgendwann doch wieder gehen zu müssen, Mustafas erste Lebensjahre. »Ich war irgendwie immer auf dem Sprung, ich hab immer damit gerechnet, dass wir irgendwann zusammenpacken müssen!« Daran scheiterte sogar die erste Liebe.

»Aber irgendwann kapierte ich dann doch, dass das hier meine Heimat war. Und dass man mir die Freunde, die ich hier hatte, nicht mehr wegnehmen konnte. Die Leute, mit denen ich hier groß geworden bin, standen zu mir. Als ich von der See zurückkam, nach vier Jahren, und keine Wohnung hatte, da hat mich Udo, der Wirt vom Heidelberger Krug, einfach mit nachhause genommen. Ich hab vier Wochen bei ihm gewohnt, bis ich endlich eine Wohnung gefunden hatte. Da bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich zuhause zu fühlen!«

Mustafa ist nicht als Seemann zur See gefahren und nicht in irgendeiner dunklen Hafenspelunke in London oder Shanghai angeheuert worden, sondern in einer Kreuzberger Kneipe, weit weg von der See. Es war auch kein einbeiniger Kapitän, der ihn ansprach, sondern eine blonde Frau, die glaubte: »Genau so jemanden wie dich brauchen wir! Du bist der geborene Entertainer.« Das hatte schon seine Mutter gesagt: »Junge, du hast Talent fürs Theater! Mach doch mal Theater!«

»Also hab´ ich mir, nachdem ich was Ordentliches gelernt hatte, eine Schule gesucht und ein bisschen Theaterspielen gelernt, und kaum war ich fertig und hatte das Zeugnis in der Hand, fragte mich auch schon diese Frau, ob ich nicht Lust hätte, auf der Aida zu spielen. «Mustafa Akça hatte weder Faust rezitiert noch einen Tanz aufs Parkett gelegt, er hatte lediglich erzählt. Und alle hatten ihm zugehört. So wie bei den Großvätern. Wegen dieses Talentes haben ihn schon ganz andere angeheuert, Showgrößen wie Jörg Pilawa oder Michael Schanze haben ihn als Warmupper engagiert. Er musste die Zuschauer in Stimmung bringen, damit sie auch stürmisch applaudierten, wenn der Jörg oder der Michael dann eine Stunde später auf die Bühne kamen. Und damit sie auch lachten, wenn der Jörg oder der Michael nur schlechte Witze machten. Auch zwischendurch musste er immer wieder auf die Bühne, live ist da gar nichts mehr, das wird alles zusammengeschnitten. »Da musst du unbedingt mal hingehen, du glaubst, du stirbst, wenn du das siehst. Das ist alles nur Betrug! Da kriegt der Jörg dann den Applaus für meinen Witz! - Naja, jedenfalls, war ich vier Jahre auf der Aida, und wo immer auf der Welt ich auch gerade war, in welcher phantastischen Stadt wir auch anlegten, und egal wie toll es da war: Ich wollte immer wieder zurück nach Berlin.« Und dann legt Mustafa Akça wieder eine dieser kleinen Nachdenkpausen ein und sagt, ohne sich von irgendeinem verlockenden Nebengedanken ablenken zu lassen: »Als Berliner weiß man eben, wo man hingehört.«

Dass der kleine Mustafa einmal auf der Aida, auf der Fernsehbühne und am Schluss sogar an der Komischen Oper landen würde, hätte wohl kaum einer an der Glaßbrennerschule gedacht. »Ich habe mich gern geprügelt! Aber nie mit Schwächeren. Das gab natürlich manchmal Ärger. Aber der Herr Knuth, der war gut! Egal, wie unbegabt einer war, der hat uns Wind unter die Flügel geblasen. Der hat uns ein Vertrauen mitgegeben, das trägt einen durchs Leben.«

Auch der Vater von Christian, seinem Schulfreund, war gut. Er war es, der Mustafa die ersten Schuhe mit Stollen schenkte. Weil Mustafa ja Fußballer werden wollte. Von da an gingen Christian und Mustafa zu zweit zum Training bei Blau-Weiß 90 Berlin. Mustafa wurde Balljunge, Rudi Völler und Lothar Mathäus haben ihm zugelächelt. »Und was ich in diesem Fußballclub alles erlebt habe! Wie die sich um einen gekümmert haben, wenn man mal zu spät kam, wie sie dann fragten, ob alles okay sei in der Familie - das war schon einmalig. Fußballer sind wir trotzdem nicht geworden. Christian nannte sich irgendwann Heart Buckboard und wurde Europameister im Luftgitarrenspielen oder Weltmeister oder so was. Und ich bin an der Oper. Aber Fußball ist trotzdem immer dabei. Auch wenn ich Theater mache, ist da immer auch Fußball drin. Ich spiele wie Rehhagel, kontrollierte Offensive. Ich wollte immer die 2 sein, nie die 11. Wenn die vor dem Tor an mir nicht vorbeikamen, war ich glücklich. Und ich geh auch erst aus der Oper, wenn ich eine Fußballoper geschrieben habe. Fußball, Musik, Theater, Politik, Literatur: Es geht doch immer nur darum, die Menschen zu erreichen, die man bisher noch nicht erreicht hat. Es geht darum, ihnen zu zeigen, wo die Tür ist, die rausführt, und zu sagen: Kommt mit!«

Inzwischen sind schon viele mitgekommen. Seit Mustafa den Job an der Oper hat, sind ein Tenor, ein Bass und ein Geiger aus der Türkei durch die Tür zur Komischen Oper gekommen. Und wenn vor ihm noch alle 90 der 90 Chorknaben und -mädchen in der Oper deutscher Herkunft waren, sind es heute höchstens noch zwei Drittel. Denn wenn Mustafa einem Vater sagt, sein Sohn könne an der Oper kostenlos Singen lernen, dann kommen die. »Und wenn Türken auf der Bühne stehen und singen, dann sitzen auch Türken im Publikum. So funktioniert die Integration. Das ist wie beim Fußball! Seit Özil mitspielt, sitzen auch Türken in der deutschen Fankurve.«

Wenn Mustafa Akça so redet über die deutsch-türkischen Beziehungen, dann ahnen sogar Politiker, dass er recht hat. Deshalb wurde er eines Tages gefragt, ob er nicht ins Quartiersmanagement einsteigen wolle. Also saß er eines Nachmittags unter lauter ernsten Stadtplanern im Auswahlverfahren, und irgendwann sah ihn der Neuköllner Bürgermeister neugierig von der Seite an und fragte: »Und was machen Sie eigentlich?« -»Gas, Wasser, Scheiße« , sagte Mustafa, und Buschkowsky hätte sich vor Vergnügen beinah auf die Schenkel geklopft. »Und wie wollen Sie all diese Lethargiker hier aktivieren?« -»Häkeln und Mäkeln!« , sagte Mustafa. Zwischen dem Bürgermeister und dem Entertainer entwickelte sich ein Dialog, die anderen Bewerber sagten nicht mehr viel, und ein paar Wochen später saß Mustafa zwischen häkelnden Musliminnen in verschiedensten Treffpunkten Neuköllns und erzählte.

»Natürlich kamen auch schon mal die Männer vorbei, um zu sehen, wer dieser Mustafa ist, zu dem ihre Frauen so gerne hingehen. Und das stärkste war ja, dass nach zwei Jahren Ayshe mich beiseite nimmt und sagt: Weißt du, dass wir eigentlich gar nicht häkeln, sondern stricken? Aber Stricken und Mäkeln reimt sich nicht, auf Stricken wäre mir nur ein einziger Reim eingefallen, und der hätte den Männern der Handarbeiterinnen nicht gefallen!« Nach kleiner Pause fügt er hinzu: »Manchmal bin ich vielleicht etwas zu schroff für die Hochkultur!«

Doch da ist er gelandet: An der Komischen Oper. Eine Freundin hatte ihm die Stellenausschreibung in der Zeitung gezeigt: Mitarbeiter mit türkischen Wurzeln zum Konzipieren interkultureller Theater-Projekte gesucht. Er bewarb sich, dann rief der Marketingmanager an und sagte: »Die Bewerbungsfrist ist eigentlich abgelaufen, aber was Sie da schreiben, klingt interessant. Kommen Sie doch noch mal vorbei« . Mustafa hatte nichts zu verlieren, denn die Stelle, so hieß es, sei ohnehin schon vergeben. Aber da er für eine Plauderei immer zu haben ist, fuhr er trotzdem hin und plauderte ein wenig. Eine Woche später rief der Chefdramaturg an, ob es ihm etwas ausmache, auch mit ihm ein bisschen zu plaudern. Mustafa hatte nichts dagegen, fuhr hin, plauderte, und schaute den Dramaturgen überrascht an, als der plötzlich fragte: »Können Sie eigentlich Noten lesen?« Mustafa sagte: »Nein. Aber wozu auch? Das können hier doch alle anderen schon!« 2012, ein halbes Jahrhundert, nachdem seine Großmutter nach Berlin gekommen war, war der Enkel dann der erste Türke, der bei der Komischen Oper unterschrieb. »Die andern kommen alle irgendwie aus Deutschland, England, Frankreich.... Und das ist schon witzig, wenn wir da mit dreißig Leuten rumsitzen und einer fragt, wer denn hier eigentlich ein Berliner ist, und dann heb ich immer meinen Finger und sag: Hier, icke, ick bin hier jeborn. Im Urban, wie sich das gehört für einen echten Kreuzberger. Und so ein Berliner, ich sags euch gleich, ist mit allen Wassern gewaschen.«

Mustafa ist nicht faul gewesen, seit er unterschrieben hat. Er hat den Operndolmus organisiert, fährt mit einem Kleinbus und Schauspielern des Ensembles durch die Stadt und übers Land, um Ausschnitte aus dem aktuellen Programm zu spielen. Er hat verschiedenste soziokulturelle Projekte angeleiert, das Straßenfußballfest »Berlin bolzt« , die »Popup-Opera« oder die »Selam Opera!« . Mustafa Akça hat immer irgendeine Idee, wenn es darum geht, die Leute zusammenzubringen. Irgendeine Tür zu öffnen. Aber man muss zu ihnen hingehen. Man fährt zum Jugendclub im Wasserturm in der Fidicinstraße. Zum Kotti, zum Südblock, um mit Karolina Gumos, der Darstellerin der Carmen, und drei weiteren Mitspielerinnen spontan und ohne Vorankündigung vor verwunderten Kneipengästen das Chanson Boheme zu singen und zu tanzen.

»Man muss zu den Leuten hingehen, man muss ihnen die Kultur näher bringen: Im Urban, in der AOK, in den Kneipen, an den Schulen und in den Jugendzentren. Ich möchte Veranstaltungen machen, in denen Leute aller Couleur zusammenkommen. Einfach alle. Und dazu taugen auch die großen, alten Themen, da taugen Carmen, Figaro, Don Giovanni und La Traviata. Liebe, Tod, Betrug, Krieg, Heimweh. Das interessiert nicht nur die Deutschen, das interessiert auch die Türken und alle anderen auf diesem Globus.«

Die Tage von Mustafa sind voller Leben und voller Geschichten. Und sie sind lang und anstrengend. Schon etwas müde sitzt er nach Feierabend in der griechischen Taverne in der Gneisenaustraße, schaut hinüber zum Barbier auf der anderen Straßenseite, dessen Fenster längst dunkel sind, der schon lange Feierabend hat. Doch Mustafa scheint etwas zu beobachten hinter diesem Fenster. Seine Augen wandern hin und her, als spiele sich hinter der dunklen Scheibe etwas ganz Außergewöhnliches ab. Wahrscheinlich wird er irgendwann bei diesem Bartschneider einkehren und den Barbier von Sevilla spielen. »Man kann nicht erwarten, dass diese Leute in die Oper kommen. Also muss man zu ihnen hingehen. Und das ist jetzt keine Marketingstrategie, das ist mein voller Ernst. Nur so kann Integration funktionieren.«

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