Kreuzberger Chronik
November 2012 - Ausgabe 142

Herr D.

Der Herr D. und die Hebamme


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von Hans W. Korfmann

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oder

Wo man die Wahrheit erfährt

Der Herr D. war schon lange in Kreuzberg. Im Sommer kam er in seinem Viertel keine 100 Meter weit, ohne dass ihm jemand einen »Guten Tag« wünschte. In der Nähe der Markthalle reduzierte sich die grußlose Strecke auf etwa 50 Meter. Und auch, wenn er sich unauffällig unter die Touristen mischte und sich in irgendeinem der überfüllten Cafés auf der Bergmannstraße ein bisschen wie im Urlaub fühlen wollte, vergingen keine fünf Minuten, ohne dass nicht ein bekannter Altkreuzberger sich an jenen Tisch setzte, an dem der Herr D. gerade mit einer netten Dame aus Amsterdam ins Gespräch gekommen war.

Also saß der Herr D. im Café am liebsten hinter einer Zeitung. Obwohl er den Zeitungen nicht mehr glaubte. Weil sie alle voneinander abschrieben. Der Herr D. glaubte nur noch denen, die etwas mit eigenen Augen gesehen oder mit eigenen Ohren gehört hatten.

Zum Beispiel der Kellnerin aus dem Horn Nr. 5, die ihm eines Abends beim Bier erzählte, wie sie während des unangekündigten Besuchs des amerikanischen Präsidenten die Außenministerin Albright hatte furzen hören, als sie neben ihr nur durch eine Sperrholzwand getrennt auf der Toilette saß. Er glaubte auch dem Kind der Nachbarin, das erzählt hatte, dass die aus dem Vierten kürzlich mit dem aus dem Zweiten im Park geknutscht hätte. Er glaubte dem jungen Mann aus der Nummer 18, der kürzlich erzählt hatte, dass Gregor Gysi, der Pazifist, ein Pyromane sei.

Kürzlich erzählte ihm seine kleine Nachbarin die Geschichte von der Geburt eines Politikers. Nicht der politischen Geburt etwa eines Kanzlerkandidaten, nicht dem plötzlichen Aufstieg nach jahrelangen innerparteilichen Ellenbogenkämpfen um Positionen und Ämter, sondern die Geschichte der Geburt des Kindes eines in Berlin nicht ganz unbekannten, immer lächelnden, immer sympathischen Politikers, dessen Frau gerade in den Wehen lag.

Der viel beschäftigte Mann erschien erst am Wochenbett, als das Kind fast schon da war. »Ein Mann wie ein Klischee. Voll der böse Politiker!« In Anzug und Krawatte, so erzählte die Nachbarin, habe der Mann das Zimmer betreten, kurz nach allen Seiten gegrüßt, filmreif die Frau im Bett kurz geküsst und den obligaten Blumenstrauß auf dem Nachttisch niedergelegt. Und als die Hebamme ihm nach getaner Arbeit den kreischenden Nachwuchs freudig überreichen wollte, habe der Sozialdemokrat dankend abgelehnt: »Das versaut mir ja nur den Anzug!«

Die Hebamme lachte und sagte. »Da ist nach neun langen Monaten des Wartens endlich dieses Kind auf der Welt, die Mutter ist glücklich, und dann kommt dieser Mann ins Zimmer und hat nichts anderes im Sinn als seinen Anzug.«

Diese Geschichte glaubte der Herr D. sofort. •

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