Kreuzberger Chronik
Dez. 2011/Jan. 2012 - Ausgabe 133

Herr D.

Der Herr D. kommt zurück


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von Hans W. Korfmann

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Nach zehn Jahren Kreuzberg hielt sich der Herr D. – auch wenn das einige Altkreuzberger anders sahen – für einen echten Kreuzberger. Er erteilte Touristen keine Auskunft mehr und verließ seinen Bezirk nur, wenn ihn der Zahnarzt zum Kieferorthopäden schickte. Damit unterschied er sich zwar kaum von Weddingern, Moabitern oder Schönebergern, aber welchen echten Kreuzberger interessierte schon, was die Weddinger taten?

Doch obwohl er nun ein echter Kreuzberger war, ärgerte er sich darüber, seinen Job beim Auswärtigen Amt verloren zu haben. Der Sommer mit seinen Seen, Parkbänken und all den anderen Annehmlichkeiten des Frührentnerdaseins war vorüber, mit schweren Nebeln legte sich der Dezember auf die Stadt. Der Herr D. wurde melancholisch, er vermisste den Wecker, der ihn morgens um sieben aus dem Schlaf gerüttelt hatte, und sogar die Liebich, mit der er sich zehn Jahre lang das Büro hatte teilen müssen.

Als auch noch die Nachbarin mit ihrer Bratschenfigur heulend auf seinem Sofa niedersank, nur weil auch ihre 57. Bewerbung als Zahnarzthelferin abgelehnt worden war, verließ er das Haus und machte sich auf die Suche nach gebrannten Mandeln und erleuchteten Schaufenstern, bis er sich am Ku´damm wiederfand, den ein echter Kreuzberger nie betrat. Er trieb sich gerade vor dem KDW herum mit seinen Rentieren, Weihnachtsmännern und Schaufensterpuppen in zarten Dessous herum, da sah er Olli, Olli der seit 1972 in der Zossenerstraße wohnte. Aber Olli sah ihn nicht. Ebenso wenig wie Birgit, die sonst nur in Secondhandläden unterwegs war, aber gerade aus einer Ku´damm Boutike kam. Auch Ahmet erkannte den Herrn D. nicht.

All dem Licht der Weihnachtsschaufenster zum Trotz fiel der Herr D. zurück ins Grübeln. Er erinnerte sich, wie er Paul aus der Kreuzbergstraße in Athen getroffen hatte, ohne dass er irgendwie überrascht gewesen wäre. Wie ihn Edith auf dem Flughafen in Madrid zum Kaffee einlud, als stünden sie auf der Bergmannstraße. Egal, auf welchem Kontinent man einem Kreuzberger begegnete: Der Kreuzberger tat, als sei es das Alltäglichste der Welt. Ein Kreuzberger am Nordpol, in der Sahara, auf dem Nanga Parbat: Kein Problem. Aber ein Kreuzberger auf dem Ku´damm, das war zu viel.

Da hörte er eine Stimme. »Herr D., kennen Sie mich nicht mehr?« Der Herr D. erschrak. Die Liebich! – »Was machen SIE denn am Ku´damm, Herr D.? Ich dachte, Sie sind ein echter Kreuzberger.« – »Ich, äh… – ich… – mir war es zu dunkel…« »Kommen Sie, ich habe gute Nachrichten.« Die Liebich packte den Herrn D. am Arm, zog ihn in ein teures Café und erzählte, dass Matzke, der Hausmeister, in Pension gegangen sei, und dass der Herr D. seinen Posten übernehmen solle. »Was sagen Sie jetzt?«

»Das ist ja wie Weihnachten!«, sagte der Herr D. Obwohl er Hausmeister eigentlich nicht leiden konnte. •


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