Kreuzberger Chronik
Oktober 2023 - Ausgabe 253

Herr D.

Der Herr D. trinkt


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von Hans W. Korfmann

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Es war spät geworden in der kleinen Weinbar. Man begann zusammenzuräumen. »Ich gehe jetzt nachhause«, sagte der Herr D., der bereits zwei Gläser zuviel getrunken hatte und wusste, dass er irgendwann zu reden anfing.

»Du hast doch noch gar nichts gesagt!«, maulte ein Tischnachbar. Der Herr D. war nicht der lauteste, wenn es um Putin und Selenskyj ging. Die einen waren für den einen, die anderen für den anderen. Für ihn sahen beide wie Verbrecher aus.

»Was willst du denn zuhause?«

»Nachrichten sehen!« , sagte der Herr D.

»Alles Kriegspropaganda!«

»Ich kann zwischen den Zeilen lesen.«

Die Tischgesellschaft brummte. Hier saßen die gut informierten Kreuzberger und redeten Tacheles über den Krieg, aber der Herr D. zog die Nachrichten der ARD vor! Ihm blieb nur die Flucht nach vorn:

»Aber diese Propaganda ist doch gerade das Spannende. Wir diskutieren seit einem halben Jahrhundert darüber, wie eine ganze Nation auf diesen kleinen Hitler reinfallen konnte. Wir diskutieren darüber, legen Kränze nieder, schreiben Bücher und drehen Reportagen und mahnen alle fünf Minuten: Nie wieder!

Und jetzt, wo vor unserer Haustür wieder ein Krieg angezettelt wurde, wo wir live dabei sein und zusehen können, wie ganze Länder da hineingezogen werden, da machen wir die gleichen Fehler. Gestern habe ich gesehen, wie ein Russe auf der Straße angepöbelt wurde, nur weil er als Russe geboren wurde. Mitten in Kreuzberg, wo man doch tolerant ist! Dabei sind die Russen, die jetzt hierher kommen, genau solche Kriegsflüchtlinge wie die Ukrainer. In Moskau sitzen die gleichen Frauen und fürchten um ihre Männer an der Front, und da haben die Kinder in ihren Betten genau die gleiche Angst vor den Bomben wie die in Kiew oder Odessa.

Es ist doch schizophren, wenn wir in Ausstellungen über Naziverbrechen laufen und uns betroffen zeigen über die Vergangenheit und unsere Schuld eingestehen und im gleichen Moment Waffen in Kriegsgebiete liefern und Partei ergreifen. Um Frieden zu stiften, muss man schlichten. Aber wir suchen uns einen Alleinverantwortlichen, einen Alleinschuldigen und greifen ihn an. Zuerst mit Worten, dann mit Waffen. Ich dachte, die Menschheit hätte dieses vorzivilisatorische Stadium hinter sich gelassen!«

Der Herr D. holte Luft. Er hatte getrunken. Er hatte zu viel geredet. Er hatte übertrieben. Aber niemand widersprach.

»Endlich hat der mal was gesagt!«, sagten die Tischgenossen und nickten. Der Herr D. war mit einem blauen Auge davongekommen.


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