Kreuzberger Chronik
November 2023 - Ausgabe 254

Herr D.

Der Herr D. und das Risiko


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. wollte sich gerade auf sein Fahrrad schwingen, da traf er den Nachbarn mit den Jesuslatschen. Den Politologen. Den Pessimisten. »Wohin bei der Hitze?«, fragte er. »HNO!«, sagte der Herr D., der keine Lust hatte, über Putin und Israel zu diskutieren. »Gehen Sie bloß nicht zu dem in der Bergmannstraße. Der hat mir mal das halbe Trommelfell abgesaugt mit seinem Apparat! Nehmen sie den am Mehringplatz. Nummer 14.«

Der Herr D. fuhr zur Bergmannstraße. Er hatte genug von diesem Altachtundsechziger-Pessimismus. Als ihn die Frau an der Rezeption sah, setzte sie ein besorgtes Gesicht auf: »Haben Sie einen Termin?« –

»Nein!«, sagte der Herr D., »aber es dauert nur fünf Minuten. Nur eine kurze Reinigung.« – »Wir sind voll!«, sagte sie.

Der Herr D. versuchte, den letzten Rest seines Charmes zu aktivieren. Ohne Erfolg. »Ich kann Ihnen für morgen einen Termin geben!«

»Es dauert doch nur fünf Minuten!«, beharrte der Herr D.

Sie lächelte und sagte »Tut mir leid!«

»Aber die Diskussionsveranstaltung heute abend!«

Sie lächelte freundlich und schwieg.

Der Herr D. radelte zum Mehringplatz und betrat nach einem kurzen Blick in einen klapprigen Fahrstuhl doch lieber das Betontreppenhaus mit den bekritzelten Wänden, das ihn an die Slums der Pariser Vorstädte erinnerte. Ein Schild an der Rezeption wies darauf hin, dass niemand mehr vorgelassen würde. Hinter Glas saß eine Frau und schrieb. Der Herr D. holte tief Luft und erzählte seine Geschichte. Die Frau schwieg und schrieb. Doch plötzlich sah sie auf und sagte: »Ich frage mal den Doktor.«

Wenig später saß er im Wartezimmer, an den Wänden Fotografien vom Chamissoplatz der 70er: Das Pissoir, Laternen, bröckelnde Gründerzeitfassaden, spielende Türkenkinder. Schön, dachte der Herr D., das ist ja eine Ausstellung.

»Rechtes oder linkes Ohr?«, fragte der Doktor. »Rechts«, sagte der Herr D. – »Oh«, sagte der Herr Doktor nach einem Blick ins Ohr. Dann begann er zu spülen, fragte, wo der Herr D. wohne, und dann erzählte er dem Patienten vom alten Chamissoplatz und den alten Zeiten, als sie Studenten waren und als es das Risiko noch gab, die Kneipe unter den Yorckbrücken, wo Nick Cave und Blixa Bargeld abhingen. Und worüber es einen Film gebe, wo auch der junge Doktor zu sehen sei.

Herr D. konnte schon längst wieder alles hören, da stand der Herr Doktor immer noch da und erzählte, und der Herr D. dachte, dass sein Nachbar doch kein so hoffnungsloser Politologe und Pessimist war. Und dass er in manchen Dingen durchaus recht haben konnte. Von nun an ging der Herr D. öfter zum Ohrenspülen. Immer zum Mehringplatz.


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