Kreuzberger Chronik
Mai 2023 - Ausgabe 249

Reportagen, Gespräche, Interviews

Zwischenstation Peter-Rosegger-Schule


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von Horst Unsold

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Der Wasserturm wird renoviert, die dort beheimatete Jugendeinrichtung musste für die Zeit der Bauarbeiten in die Peter Rosegger-Schule an der Bergmannstraße ausweichen. Doch bald soll es zurückgehen.

Der Wasserturm: Gewidmet der Wassergöttin Undine, errichtet vor 135 Jahren auf der Anhöhe neben der letzten Windmühle, um auch die hier oben im Viertel gerade entstandenen Neubauten an der Fidicinstraße mit fließendem Wasser zu versorgen.

Der Wasserturm: Seit den Achtzigerjahren Hauptquartier des DTK, des Deutsch-Türkischen-Kinder- und Mädchentreffs. Er ist zum Wahrzeichen des Viertels geworden, ein Stück alternativer Kreuzberger Geschichte und darüber hinaus eine romantische Idylle mit Hof und Garten, Ausschank, Kicker, Siebdruckabteilung und Proberaum. Kinderfeste wurden veranstaltet, es gab ein Ferienprogramm und eine offene Bühne im runden Veranstaltungsraum, der all die Jahre über allen zur Verfügung stand, und den jeder, der etwas zu zeigen oder zu sagen hatte, nutzen konnte. Unentgeltlich.

Ein Raum, der ebenso für politische Diskussionsveranstaltungen wie für Tanzabende und Konzerte, Theateraufführungen und Lesungen, Filmabende oder Kabarettvorträge zur Verfügung stand. Hier trat der Immobilienhändler vor die Anwohnerschaft, um sein Bauprojekt auf dem Gelände der gegenüberliegenden Brauerei zu verteidigen und wurde von den Kreuzbergern von der Bühne gescheucht. Hier standen die Rapper Challa und Kane vor den Mikrophonen, um von Kreuzberg aus zwar nicht die Charts der Welt, aber immerhin die Bühnen Deutschlands zu erobern. Hier war der Sitz der Kreuzberger Schaumbühne, hier traf man sich zum Salon Undine und hier wurde zur Turmmusik geladen.

Der Turm war eine Bastion und eine der letzten senatsgeförderten Jugendeinrichtungen. Ein Freiraum, den ehemalige Hausbesetzer der Stadt abgetrotzt und jahrzehntelang gegen Sparmaßnahmen und andere Bedrohungen verteidigt hatten. Auch Monika Herrmann, einst Bürgermeisterin des Bezirks, ergriff Partei für den Turm und scheute keine klaren Worte: »Der Wasserturm bleibt!«

2020 wurde die stille Idylle aus Turm und Hof eingerüstet. Es gebe, erklärte der Bezirk, dringenden Sanierungsbedarf. Einige stets skeptische Kreuzberger witterten Verrat, denn die Jugendeinrichtung sollte ausziehen. Wenn auch nur vorübergehend. In die nun schon seit Jahren geschlossene und allmählich immer mehr verrottende Peter Rosegger-Schule.

Die Peter Rosegger-Schule: Vor 137 Jahren – zwei Jahre vor dem Bau des Wasserturms - als 139-140. Gemeindeschule Berlins feierlich eingeweiht. Ein stolzes und vierstöckiges Backsteingebäude gegenüber dem Marheinekeplatz mit der ebenfalls aus rotem Backstein errichteten Passionskirche. Nach mehr als 100 Jahren der Gelehrsamkeit stand die Schule plötzlich vor dem Aus. Noch vier Klassen und etwa hundert Schüler wurden in dem denkmalgeschützten Gebäude unterrichtet, die meisten von ihnen Enkel der Einwanderergeneration aus den Siebzigerjahren.

Die Peter Rosegger-Schule war in Verruf geraten. Immer mehr Eltern aus dem in Berlin einwandernden deutschen Bildungsbürgertum protestierten, wenn ihren Kindern die Schule am Marheinekeplatz zugewiesen wurde. Die engagierte Direktorin zog von Kita zu Kita und versuchte, Schüler zu gewinnen. Sie lockte mit einer Klassengröße von 10 bis 12 Kindern und bot nicht nur Deutsch für türkische Muttersprachler, sondern auch Türkisch-Unterricht für deutschsprachige Kinder an. Eine sinnvolle Maßnahme in einer Stadt, in der es zunehmend Konflikte gab zwischen Einwanderern und Alteingesessenen. Die Schule war besser als ihr Ruf, doch nicht mehr zu retten. 25 Jahre lang wurde keine Mark investiert. Auch jetzt noch scheuen sich Bezirk und Senat, Geld für die Renovierung des Gebäudes zur Verfügung zu stellen. »Die Rosegger war immer das Schlusslicht!«, resümierte schon die letzte Direktorin. 2004 wurde die Schule geschlossen, damit die senatseigene Immobilienfirma das Gebäude auf dem freien Markt anbieten konnte. Doch die marode Bausubstanz schreckte alle ab.

Seitdem wird überlegt, was aus der leeren Schule werden soll. 2015 war von einem Kulturzentrum die Rede, doch Krieg und Corona haben diese Träume in weite Ferne gerückt. Schule und Schulhof verkamen, nur im Erdgeschoss probten noch die Schüler des Konservatoriums für türkische Musik, als 2020 ein Quartier für die Wasserturmkinder gesucht wurde. Zuerst dachte man an Container im Schulhof, doch das Blechquartier hätte 250.000 Euro verschlungen. Deshalb entschied man, die erste Etage der Schule für den Wasserturm zu renovieren. Zwei Tage lang war man mit drei LKWs und neun Trägern beschäftigt, um die Einrichtung aus dem Turm ins Ausweichquartier zu transportieren. »300 Umzugkartons, dazu schwere Kisten und Kästen!«, stöhnt Sabine Blankenheim. Nur ein Teil der Siebdruckwerkstatt blieb im Turm. »Das war definitiv zu schwer!«

Zwei Jahre im Exil sollten es werden. Bald sind es drei. Und eine Idylle ist das neue Quartier auch nicht. Drei Tischtennisplatten im Hof, umgeben von einem Ambiente aus Glassplittern, Müll und ungepflegten Sträuchern. An einer schmucklosen Glastür ein Hinweisschild mit einem Pfeil: DTK, erster Stock, links. Hinter dem Glas ein menschenleerer Gang, eine Reihe schmuckloser Türen, die an linoleumbelegte Flure in Amtsgebäuden und Krankenhäusern erinnern.

Die Schule sollte eine Zwischenstation sein, doch sie erinnert an eine Endstation. Hakan Aslan, der seit vielen Jahren mit den Jugendlichen vom Wasserturm arbeitet, erzählt von den Junkies, die sich mit ihren Spritzen ins Gebüsch des Schulhofes zurückziehen. »Ich weiß, die brauchen auch ihre Plätze, aber hier, wo ständig Kinder sind, ist dieser Platz nicht. Die Kinder haben Angst.«

Mit dem von alten Mauern eingefriedeten Kopfsteinpflasterhof des Wasserturms ist der verdreckte Schulhof nicht zu vergleichen. Doch nicht alles ist so schlecht, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Klientel hat sich verändert, die Wasserturmkids sind jünger geworden seit dem Umzug. »Die harten Jungs hatten keinen Bock auf Corona-Tests und Masken.« Obwohl auch sie auf den Turm eigentlich nicht verzichten wollten. »Und da haben sie die Tests einfach gefälscht. Das Dumme war, dass sie mir zwei Tage vorher gezeigt hatten, wie man das macht.« Hakan schmunzelt, blieb aber streng und wies ihnen die Tür. Auch wenn es eine Bestätigung seiner guten Arbeit war, »wenn die Jungs ihr bisschen kriminelle Energie nur dazu nutzen, sich den Eintritt in ihren alten Jugendclub zu erschleichen!«

Die Corona-Bestimmungen sind Vergangenheit, doch von den alten Stammkunden des Wasserturmclubs sind nur wenige geblieben. Die meisten kommen jetzt aus dem »Bergmannkiez« oder vom Leibniz- Gymnasium gegenüber. Aus dem Viertel um den Wasserturm kommen kaum noch welche. »Früher schauten die durchs Fenster, und wenn jemand da war, den sie kannten, dann kamen sie herein«, erinnert sich Sabine Blankenheim. Im ersten Stock des Schulgebäudes kann niemand mehr durchs Fenster gucken.

»Es sind andere Kinder jetzt als früher im Turm. Die kommen eindeutig aus dem Bildungsbürgertum. Es gibt Eltern, die ihre Kinder herbringen und wieder abholen und die mit uns Kaffee trinken.«, meint Aslan. »Früher eine absolute Ausnahme!« Auch die Mischung der Kinder ist internationaler geworden, man hört neben türkischen und arabischen Worten jetzt auch skandinavische, englische oder spanische. Das hat nicht nur mit dem Umzug zu tun. Schon in der Fidicinstraße war der Wandel spürbar: »Früher wohnten in jedem Haus dort oben noch ein oder zwei Familien aus der ersten oder zweiten Einwanderergeneration. Von denen ist kaum jemand übrig.«

Geblieben sind trotz des Standortwechsels die Klassen aus der ehemaligen Lenauschule, die nachmittags die Tanz- und Nähkurse besuchen oder in die Graffitiwerkstatt wollen. Dazu kommen etwa 40 Kinder und Jugendliche täglich, die vorbeischauen um zu kickern oder am Computer zu spielen. Oder auch einfach nur um nachzusehen, ob Jakob mit dem Skateboard oder Miloufa mit der goldenen Haarspange vielleicht doch da sind. Die »Rossi« ist zum Treffpunkt geworden. »Es sind jetzt wesentlich mehr Kinder hier als noch vor einem Jahr. Wir sind in der Bergmannstraße viel näher dran an den Kindern. Und die Räume sind größer!« Sie werden die »Rossi« vielleicht sogar vermissen, wenn sie Tages zurück auf den Berg müssen. »Wir werden wieder Kinder verlieren. Man verliert mit jedem Umzug.«

Die Erzieher allerdings sehnen sich trotz einiger Vorteile des Notquartiers nach der Heimkehr. Auch die Turmpoeten und die Turmmusiker warten schon darauf, dass der Wasserturm wieder geöffnet wird. Die Buchhandlungen Hammett und Otherland haben schon nachgefragt, wann sie ihre Autoren wieder im Turm präsentieren können. Der Turm sieht längst bezugsfertig aus, das Gerüst ist verschwunden, die Spitze glänzt mit neuen Schieferschindeln.

3,8 Millionen sollte die Renovierung kosten, eine Summe, von der die Verteidiger der ebenso denkmalgeschützten Peter Rosegger-Schule nur träumen können. Inzwischen wurde für den Wasserturm noch eine Million draufgelegt, auch die Bauzeit wurde verlängert: Eigentlich sollten schon im März die 300 Umzugskartons wieder gepackt werden. Dann war vom Sommer die Rede, jetzt denkt man an November. Die Baufirmen verwiesen auf das »Konfliktholz« und die durch Corona-Krise und Krieg überteuerten Preise und langen Lieferzeiten für Baumaterial. Inzwischen fürchten die Wassertürmler um die zeitlich befristeten »Umzugsgelder«, die vom Senat bereitgestellt wurden und mit denen die Umzugswagen und Möbelpacker finanziert werden sollen.

Auch für die neue Küche und die Aufrüstung der Veranstaltungstechnik wird Geld benötigt. Der Wasserturm soll den Bedürfnissen einer modernen Jugendeinrichtung angepasst werden. »Wir bekommen einen zweiten großen Raum, direkt über dem Saal mit der Bühne im Erdgeschoss. Der war immer verschlossen, weil dort alles voller Rohre lag und weil es keinen Fluchtweg gab. Jetzt wird ein Schwingboden eingezogen. Damit haben wir 100 Quadratmeter zusätzlich«, und einen Multifunktionsraum, der ebenso als Gymnastik- oder Sport-saal genutzt werden kann wie als Konzertsaal oder Proberaum.

Eigentlich wollten sie den neuen Saal während des Sommerfestes einweihen. Doch das Sommerfest wird wohl ein Herbstfest im Hof vor der Peter Rosegger-Schule werden. Es könnte dann eine Abschlussfeier sein. Danach werden sie packen und ein neues Wasserturm-Kapitel aufschlagen. Und auch, wenn es dort oben im alten Wasserturm schöner sein wird als hier unten im dunklen Hof: Die Kinder werden eines Tages gerne erzählen, wie sie nachmittags den Akrobatik-Unterricht ausfallen ließen, um die vielen Menschen, die unten im Schulhof ganze LKWs randvoll mit Säcken voller Decken, Kleider und Schuhe für die Erdbebenopfer in der Türkei beluden, zwei Stunden lang mit heißem Kaffee zu versorgen. Und dass ihre »Rossi« sogar in der Tagesschau zu sehen gewesen war.

Ibou Bellamy im improvisierten Waseerturmcafe - Foto: Holger Groß



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