Kreuzberger Chronik
März 2023 - Ausgabe 247

Strassen, Häuser, Höfe

Bergmannstraße 68


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von Horst Unsold

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Es gibt aufwendig restaurierte Fabrikhöfe mit blank polierten Kacheln an den Wänden, monatlich geputzten Fenstern und Privatparkplätzen. An den Einfahrten hängen Videokameras und Verbotsschilder, in den Durchgängen zu den Höfen stapeln sich die metallenen Werbetafeln der eingemieteten Firmen bis unter die Decke und suggerieren einen rentablen Wirtschaftsstandort. Dass die respektablen Schildchen ständig ausgetauscht werden, weil sich ein Großteil der subventionierten Startups als Fehlstarter erweisen, fällt kaum auf - so ähnlich klingen die anglophilen Firmennamen.

Die meisten dieser Gewerbehöfe liegen in der Berliner Mitte und in Prenzlauer Berg, aber auch die GSG-Höfe im Westen Berlins, die zu Mauerzeiten vom Senat aufgekauft wurden, um dem Mittelstand günstige Produktionsflächen anbieten zu können, sind aufwendig restauriert worden. Nach dem Fall der Mauer verkaufte der Senat die Höfe an einen privaten Investor. Seitdem ist für kleine Handwerksbetriebe und Läden oder gar Künstler, Musiker oder Wohngemeinschaften kein Platz mehr in den teuren Fabriketagen.

In der Bergmannstraße 68 sieht es anders aus. Zwar gibt es auch in den 1912 entstandenen Gebäuden Firmen, die mit rätselhaften Namen wie Digital Darkroom Berlin oder AHA Factory Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch hinter ihnen verbergen sich keine Softwarespezialisten auf der Suche nach Marktlücken. Digital Darkroom - die digitale Dunkelkammer - hat als konventionelles Fotolabor begonnen und sich erst mit der Digitalisierung einen englischen Namen zugelegt. Es stellt Prints auf Barytpapier her, und hinter AHA verbirgt sich die Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft, die 1974 aus der Kreuzberger Schwulenszene entstand. In der Bergmannstraße vermietet der Verein Büroräume und Arbeitsplätze für Kreative.

In den Höfen der Nummer 68 existiert bis heute die klassische Kreuzberger Mischung. An den grün gestrichenen Metalltüren hängen die Schilder des Kraftfahrzeugmeisters Steffen oder des Messebauers Pollmar. Ein Modellbauer namens Gonzalez baut hölzerne Architekturmodelle, es gibt eine Taschenmanufaktur, eine Praxis für Ergotherapie, eine Schauspielschule und das »Anti-Plunder Warenhaus« von Bolle & Scheese, das nicht nur Messer und Kochutensilien, sondern auch Surfbretter, Skateboards, Taschen, Kulturbeutel und Schlüsselanhänger verkauft - eine Summe von Artikeln, für die es keinen gemeinsamen Nenner gibt, die aber trotzdem kein Plunder sein wollen. Cover B. ist eine vielfach prämierte Lederwerkstatt, die in den Achtzigern damit begann, aus Lederresten Taschen zu fertigen, und ganz oben im vierten Stock fertig Myra Klose aus Troddeln und Pompons Kunstobjekte. Im ausgebauten Dachgeschoss, dem ehemaligen Atelier eines Trickfilm-Studios, von wo aus einst Lars, der Eisbär, (vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 246) die Welt eroberte, ist auf 300 Quadratmetern mit Blick über die halbe Stadt nicht etwa ein kinderloses Managerehepaar eingezogen, sondern zwei Wohngemeinschaften. »Und die Mieten hier sind absolut fair. Wenn Frau Fritz nicht wäre, dann wären wir alle schon längst nicht mehr hier!«, sagt Nicolas Grützmacher, dessen Urgroßvater 1899 eine Druckerei gründete, die irgendwann einmal alle vier Etagen des Quergebäudes besetzt hatte. Der Urenkel begnügt sich heute mit einer halben Etage im zweiten Stockwerk.

Grützmacher kommt beinahe ins Schwärmen über die Frau, die nicht nur das Haus mit der Nummer 68 gekauft hat, sondern noch andere Häuser in der Stadt besitzt. Sie ist ein Beispiel dafür, dass Privatbesitzer mitunter mehr Verantwortung übernehmen als Staat oder Senat. Nicolas Grützmacher erinnert sich an eine befreundete Druckerei aus dem einst senatseigenen GSW-Hof in der Blücherstraße 22, die plötzlich 13.000 Euro Miete für 600 Quadratmeter bezahlen sollte. Die Druckerei packte ihre tonnenschweren Maschinen und verließ Kreuzberg auf Nimmerwiedersehen.

Frau Fritz ist eine Ausnahme. Sie sucht sich ihre Mieter sehr genau aus, und deren Zahlungskräftigkeit ist dabei nicht das entscheidende Kriterium. Schließlich bekommt sie nicht nur eine Miete von ihren Mietern, sie lebt auch mit ihnen und nimmt an den Malkursen teil, die von der Kunstschule im ersten Stock veranstaltet werden. Und wenn einer ihrer ältesten Mieter, der Kraftfahrzeugmeister Steffen, seinen Sechzigsten feiert, Biertische und eine Band in den Hof stellt und alle Freunde und Mieter der 68 einlädt, dann sitzt auch Frau Fritz mit am Biertisch. Sie kümmert sich nicht nur um ihre Immobilie, sie kümmert sich auch um die Menschen, die in ihr wohnen.

Das macht sie gemeinsam mit dem Hausmeister und dem Verwalter, die ebenfalls im Haus wohnen. Auch drei der Gewerbemieter aus dem Hinterhof, die eigentlich nur zum Arbeiten hierher kommen wollten, haben inzwischen ihren Privatwohnsitz in die Bergmannstraße 68 verlegt und wohnen jetzt im Vorderhaus mit Blick auf die Bergmannfriedhöfe. Viel schöner als hier kann man sowieso kaum noch wohnen.

Die Bergmannstraße 68. Nach außen hin unterscheidet sie nur wenig von den anderen Häusern am östlichen Ende von Kreuzbergs prominentester Straße. Nicht einmal die Klingelschilder klingen anders. Doch dieses Haus ist eines der letzten Beispiele für die einst berühmte »Kreuzberger Mischung«. •

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