Kreuzberger Chronik
März 2023 - Ausgabe 247

Reportagen, Gespräche, Interviews

Die Weihnachtsüberraschung


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von Michael Unfried

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Der Tisch war gedeckt, die Gans war im Rohr, der Besuch schon eingetroffen. Doch dann verging ihr plötzlich der Appetit.Was ist geschehen?


Diese Geschichte spielt in einem jener alten Häuser, die Immobilienmakler gerne »Althausperlen« nennen, um sie ihren Kunden schmackhafter zu machen. Aber diese Geschichte könnte auch in einem ganz anderen Haus spielen, es ist eine alltägliche Geschichte in Städten wie Berlin. Erzählen muss man sie trotzdem, immer wieder.

Das Haus, von dem hier die Rede sein wird, war ein vornehmes Haus. Die Wohnungen besaßen viele Zimmer, von denen die großen mit Eichenparkett belegt und durch hohe Flügeltüren verbunden waren. Es gab für jede Wohnung einen separaten Dienstboteneingang über den Hof und im Haupteingang einen Portier für die Besucher. Von den Balkonen des Vorderhauses sah man über den Kreuzberg und die Baumwipfel des Viktoriaparks.

Das Haus überstand den Krieg unbeschadet, irgendwann wurde es Eigentum der Sterntalerstiftung, die es pflegte und sich um die Mieter kümmerte. Als die Mauer fiel, lebten hier noch eine achtzigjährige Dame, die in der Straße aufgewachsen war und ihren Schulfreund heiratete, sowie einige Männer und Frauen in den besten Jahren, sogar ein paar Kinder. Das Haus war bevölkert von einer Mischung aus Studenten, Arbeitern, Freiberuflern und Akademikern. Man organisierte Hoffeste, kümmerte sich gemeinsam um das Grünzeug im Hof und feierte die Geburtstage zusammen in den großen Wohnungen, manchmal bis zum Morgen, ohne dass sich jemand beschwerte.

Dann starb der Stiftungsgründer und Sterntaler verkaufte das Haus an einen ausländischen Immobilienhändler. Wenige Tage später traf sich die Hausgemeinschaft in der Kneipe zur Lagebesprechung, man diskutierte, telefonierte, recherchierte und drang mit seinen Sorgen bis ins Rathaus und bis ins Zimmer des Bezirksbürgermeisters vor. Keiner wollte hier wegziehen, dieses Haus war keine Bleibe, kein Mietshaus, es war ein Zuhause.

Unvergesslich die Szene, als die neuen Eigentümer sich offiziell vorstellten. Da standen sie unten in der Kneipe: Ein schlanker, junger Österreicher in Jeans, weißem Hemd und mit einem Unschuldsgesicht, flankiert von zwei kräftigen Bodyguards. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, alle können hier wohnen bleiben, wir werden nur ein paar notwendige Renovierungen durchführen.«, sagte der Österreicher. Die Bodyguards nickten und grinsten. Es war wie im Film.

Nachdem der Österreicher an einen Branchenkollegen namens Goldenzeil weiterverkaufte, parkten ähnlich teuer gekleidete Herren ihre windschnittigen Autos vor dem Haus, klingelten bei den Mietern und boten ihnen die Wohnungen zum Kauf an. Einige überlegten, andere brauchten gar nicht erst zu überlegen - sie hatten ohnehin kein Geld. Dann versuchten die neuen Besitzer, die Mieter mit so genannten »Umzugshilfen« zum Ausziehen zu bewegen. Die Hausgemeinschaft aber war sich einig, man würde sich nicht kaufen lassen. Und dann zogen sie doch heimlich aus, erst einer, dann die nächste. Von 20.000 Euro war die Rede. Die Hausgemeinschaft bröckelte.

Nun begannen die Bauarbeiten, es wurde ungemütlich im Haus, die Heizung fiel aus, das Wasser lief durch die Decken oder wurde abgedreht, ab und zu kam Post vom neuen Eigentümer, die fristgerecht beantwortet werden musste. In einer der leeren Wohnungen wurden die Arbeiter untergebracht, acht an der Zahl, und als wieder einmal die Wasserleitung platzte, entleerten sie ihre Nachttöpfe kurzhand aus dem Fenster. Es lief an den Scheiben bei der alten Dame herunter. Die Polizei kam und sagte: »Wir haben ja schon viel gesehen, aber so etwas!« Und dann stahl der Geschäftsführer des zwielichtigen Unternehmens mit den vielen Firmenschildern und Namen an den Briefkästen das Auto seines Chefs. Wieder rückte die Polizei an und die Mieter konnten zusehen, wie der Dieb übers Dach flüchtete. Es war wie im Film. Es waren bewegte Zeiten.

Das Schlimmste aber waren die Besuche der Makler mit ihren Kunden. Manchmal gingen sie gleich wieder, so wie bei der Familie mit dem Baby auf dem Arm. Die Käuferin, eine junge Italienerin, war noch geblieben, als der Makler schon zum nächsten Termin musste. Sie trank Kaffee mit den Mietern und sagte, als sie schon in der Tür stand: »Ich sehe doch, wie glücklich Sie hier sind. Ich kaufe keine Wohnung, in der Menschen leben.«

Andere Käufer denken anders. So auch der junge Mann, der eines Tages angekündigt wurde, um eine Wohnung im dritten Stock zu begutachten. Bei seinem Antrittsbesuch saß zufällig die halbe Hausgemeinschaft »zum Freitagskaffee« in der Küche und demonstrierte Geschlossenheit. Die Situation war dem Makler sichtlich peinlich, auch der Interessent schien sich nicht wohl zu fühlen in dieser Gesellschaft. Sie lehnten den Kaffee dankend ab und liefen mit ihrem polierten Schuhwerk durch die Zimmer. Der Käufer, ein junger Politiker in guter Position, sah sich alles an und nickte, während der Makler die Vorzüge der Wohnung pries. Es dauerte nicht lange, da waren die beiden Männer wieder verschwunden.

Die geschlossene Gesellschaft und die feindselige Atmosphäre schienen den Interessenten beeindruckt zu haben. Er hatte offensichtlich das Interesse verloren, im dritten Stock hörte man nichts mehr von ihm. Doch ein Jahr später wechselte die baugleiche, darüberliegende Wohnung im vierten Stock ihren Besitzer. Der Politiker hatte auf die Besichtigung und eine abermalige Begegnung mit den Mietern des Hauses dankend verzichtet. Er kaufte, ohne die Mieterin gesehen zu haben, die dort lebte. Seit 22 Jahren. Heidi.

Heidi ist vor 80 Jahren am Kreuzberg aufgewachsen und hat dem Bezirk seitdem die Treue gehalten. Sie wohnte in der Möckernstraße, der Wartenburgstraße und in der Dudenstraße, immer im selben Viertel. Im Feuerlöschteich neben dem Fußballstadium lernte sie schwimmen, in der Hagelberger Straße ging sie zur Schule, ihr Vater war der Leiter eines Kreuzberger Jugendheimes - dem heutigen Tomasa. Als er sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen konnte, verbrachte er die Wochenenden in der Wohnung der Tochter, die mit ihm im Sommer 1998 in einem gemieteten Wohnmobil noch einmal bis ans Nordkap fuhr. »Ich musste doch was zurückgeben.«, sagte Heidi. »Und er wollte doch schon immer wenigstens einmal im Leben die Mitternachtssonne sehen!« Wenige Monate später trat er die allerletzte Reise an.

Inzwischen ist Heidi so alt wie damals ihr Vater. Auch ihr Herz ist schwach geworden. Der Arzt zieht jedes Mal die Stirn in tiefe Falten, wenn er sie sieht. Reisen unternimmt sie kaum noch, die Wohnung mit Blick auf den Kreuzberg, um den sich ihr ganzes Leben drehte, ist zum unumstrittenen Lebensmittelpunkt geworden. Hier ist ihr Zuhause. Doch an einem verregneten Tag im letzten April klingelte es an der Wohnungstür. Eine freundlich lächelnde Frau stand vor ihr und überreichte ein Anwaltsschreiben: Die Kündigung aus Eigenbedarf.

Heidis Welt begann sich zu drehen, sie zitterte am ganzen Leib, rief die Nachbarin an, die kam und half, bis die Welt wieder zum Stillstand kam. Den Anwalt kannte sie bereits, da sie 2016 ihre Miete angeblich nicht pünktlich gezahlt hatte. Damals wurde klar: Der Eigentümer wollte sie loswerden. Aus ökonomischer Sicht durchaus verständlich: Die gleiche Wohnung im ersten Stock wird seit einiger Zeit an Touristen vermietet, die Preise liegen zwischen 480 und 510 Euro. Pro Nacht. So viel zahlte Heidi nicht. Aber sie zahlte. Sogar pünktlich. Das Gericht musste ihr 2016 Recht geben.

Der Eigentümter der Wohnung korrespondierte mit ihr zehn Jahre lang nur über den Anwalt. Er vermied es, seiner Mieterin zu begegnen und kam nur, um die Renovierungsarbeiten zu begutachten. Er war reserviert und »immer der Chef. Nur einmal - da war zufällig ein Bekannter bei mir zu Besuch – da war er scheißfreundlich.« Darüber, dass er die Absicht habe, selbst in die Wohnung zu ziehen, hatte er nie ein Wort verloren. »So ein Feigling!«

Nun hielt Heidi die Kündigung in der Hand. Sie ging zum Mieterverein, der die aufgeregte Frau beruhigte und ihr einen Anwalt zur Seite stellte. Der entgegnete der Kündigung fristgerecht, und Heidi sah der Zukunft entspannter entgegen. Der Sommer ging ins Land, am Kreuzberg wurden die Blätter bunt, und dann kam Weihnachten. Heiligabend. Der Teller mit den Lebkuchen stand auf dem Tisch, die Gans war im Rohr, ein Freund war zu Besuch. Und eine Weihnachts-überraschung gab es auch: Einen gelben Briefumschlag im Briefkasten. Zugestellt durch Boten. Vom Amtsgericht Kreuzberg. Es klang bedrohlich. Wenn Sie der Ladung vor Gericht »ohne genügende Entschuldigung nicht folgen...« würde..... Es blieben ihr genau 14 Tage Zeit, um Widerspruch einzulegen.

Sie erinnerte sich: Zwei Tage zuvor hatte sich der Eigentümer per Mail bei ihr gemeldet, abermals wegen einer angeblich fehlenden Mietenzahlung. Darauf hatte sie geantwortet. Vielleicht war das ein Fehler. Denn nun wusste der junge Mann, dass sie über Weihnachten da war und dass das Schreiben vom Gericht zugestellt werden konnte.

Wieder drehte sich Heidis Welt in rasantem Tempo. Sie versuchte den Mieterverein zu erreichen, den Anwalt, irgendeinen Anwalt. Das Gericht. Sie erreichte niemanden, nirgendwo. Alle waren in den Ferien, alles war geschlossen, sie sollte warten bis zum 2. Januar. Dann wären ihr noch genau fünf Tage geblieben, um Einspruch zu erheben.

Der Grund für die Ladung war ein angeblicher Formfehler auf dem Einspruchschreiben des Mietervereins. Zur Begründung der Kündigung hatte der Anwalt des Eigentümers ein mehrseitiges Schreiben verfasst. Darin heißt es, dass der Eigentümer das »Mietsvertragsverhältnis wegen Eigenbedarfs« kündige und dass man davon ausgehe, dass »das Mietverhältnis zum 31.01.2023 endet«. Der Anwalt fügt hinzu: „Bereits jetzt widerspreche ich der Fortsetzung des Mietvertragsgebrauches durch Sie über diesen Termin hinaus.«

Dann listet er die Leiden seines Klienten an dessen derzeitigem Wohnsitz auf: Ruhestörungen, »nächtliches Klavierspiel«, betrunkene Touristen auf der Straße, »Tanzen, Trampeln und Springen« in der Wohnung über ihm, ein Brand im Briefkasten, weshalb er sich in dieser Wohnung »nicht mehr sicher« fühle. Hinzu käme die Enge der nur 100 Quadratmeter großen Wohnung sowie »die Lärmbelästigungen durch den S-Bahn-Tunnel der Linien S1, S2, S25 und S26 an 7 Tagen in der Woche und bis zu 24 Stunden am Tag!«

Mit einem Wort: »Die psychische Belastung ist erheblich« und der einzige Ausweg aus der Misere ist ein Umzug ins beschauliche Kreuzberg, wo der wirkliche Lebensmittelpunkt seines Klienten liege und sämtliche seiner Freunde wohnten. Im Tomasa am Kreuzberg habe er geheiratet, am Kreuzberg gehe er »regelmäßig zwei mal die Woche joggen«. Er benötige dringend eine größere Wohnung, zumal er ständig Besuch erhalte, »darunter seine Mutter, seine vier Geschwister, deren Ehe- und Lebenspartner sowie seine fünf Neffen und Nichten,« von denen einer sogar dauerhaft bei ihm einziehen wolle. »Es wundert mich, dass er nicht noch eine verstorbene Urgroßmutter auf den Bergmannfriedhöfen zu liegen hat, der er jeden Sonntag ein Sträußchen bringen muss!«, sagt die Mieterin.

Ein weiterer wichtiger, wenn auch makaber erscheinender Grund, den der Anwalt sich nicht scheut anzuführen, sei die unsichere Mietsituation seines Klienten, der »nur in der eigenen Eigentumswohnung vor Eigenbedarfskündigung geschützt« sei. Der Brief schließt mit den Worten: »Sicher haben Sie Verständnis dafür«, dass der Eigentümer »aufgrund der dargestellten Gründe in die von Ihnen genutzte Wohnung ziehen« möchte.


Was schwerer wiegt: die Bedürfnisse eines noch jungen Mannes oder die einer achtzigjährigen Frau, darüber wird nun ein Gericht entscheiden. Dass der Politiker persönlich erscheinen wird, wenn er erklären soll, wie dringend er diese Wohnung benötigt, glaubt Heidi nicht. »Der hat mir doch noch nie in die Augen geschaut.« •



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