Kreuzberger Chronik
Juni 2023 - Ausgabe 250

Geschichten & Geschichte

Hoppla, Vater siehts ja nicht -


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von Ina Winkler

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Als 1910 die Genossenschaft der Glaser an der Blücherstraße ein 4500 Quadratmeter großes Grundstück erwarb, das Wohnhaus mit Springbrunnen und schmiedeeisernen Lauben abreißen und im einstigen Garten einen Gewerbehof errichten ließ, zog im Erdgeschoss des Vorderhauses ein Café ein. 1926 machte es Platz für die Blücherlichtspiele, eines von fast 400 Filmtheatern in Berlin. (Vgl. Kreuzberger Chronik Nr 36 vom Februar 2002)

Die Kinos erlebten in den 20ern ihre Blütezeit, doch mit ihren Nitrofilmrollen waren sie auch brandgefährlich. Immer wieder kam es zu Bränden. Drei Jahre nach der Eröffnung rauchte es auch im Vorführraum der Blücherlichtspiele – trotz der erst kurz zuvor erfolgten Inspektion durch die Brandschutzbehörde. Um Scherereien zu vermeiden, verzichteten die Kinobesitzer darauf, die Polizei zu informieren, doch ein aufmerksamer Polzist bekam Wind von dem Feuer in der Blücherstraße. Pflichtbewusst machte sich der Beamte auf den Weg und gab am Abend zu Protokoll:

»Aufgrund der Zeitungsmitteilung habe ich das Lichtspieltheater Blücherstraße 22 am 9. d. Mt. besichtigt und folgendes festgestellt: Am 8. August 1929 gegen 19 Uhr Abends ist bei der Vorführung des Films Hoppla, Vater sieht´s ja nicht! anscheinend durch Reißen ein Stück Film im Bildfenster in Brand geraten, da bei der Spiegellampe von 15 Amp. Stromstärke ohne Kühlvorrichtung gearbeitet wird.

Vorführer Friedrich Schwartz, 28.4.1903, Tilsit, wohnhaft Bln. Neukölln, Weserstraße 31, und Umroller Franz Skrzypczak, 2.10.1906, Czarnikau, wohnhaft Nostitzstraße 60, haben anscheinend unzweckmäßige Löschversuche unternommen. Bei den Stichflammen haben sie ziemlich erhebliche Brandwunden davongetragen und sind dem Urbankrankenhaus überwiesen worden.«

Der Polizist schließt seinen Bericht mit der Forderung nach Überprüfung der Stromleitungen sowie einer zu installierenden Kühleinrichtung im Vorführraum. Doch der Kinobesitzer sträubt sich und klagt, wie damals üblich, den Behörden aufs dramatischste sein Leid. Er sei »wegen der starken und langanhaltenden Winterperiode« ebenso wie wegen »des früh eingesetzten und langanhaltenden Sommers« in einer »dermassen katastrophalen« finanziellen Lage, dass er »vor dem völligen Zusammenbruch« stehe. In so einer Situation kämen »infolge des zufälligen Brandes« diese Forderungen nach Umbauten, deren Kosten er »keinesfalls bestreiten« könne, äußerst »ungelegen«.

Es gelingt ihm, einen Aufschub zu erwirken, doch bei einer Inspektion drei Jahre später sind die Leitungen noch immer in desolatem Zustand. Also verkauft er an Brendel & Lorke, die sich jedoch zuerst einmal um eine neue Bestuhlung kümmern. Es dauert nicht lange, da beanstandet das Amt abermals die elektrischen Anlagen. Drei mal wechselt das Theater in kürzester Zeit den Besitzer, bis Herr Pietsch übernimmt. Herr Pietsch ist mit allen Wassern gewaschen. Am 26. 6. 1935 notiert der Sachverständige, dass er sich jeglicher Renovierung widersetze und nicht einmal bereit sei, Reparaturen durchzuführen, »welche keinerlei Kosten verursachen«. Es handele sich zweifelsfrei um ein »Nicht Wollen«. Der Mann sei zutiefst uneinsichtig, obwohl er Zeuge gewesen sei, wie schon »das zufällige Berühren des Schutzgehäuses einen Kurzschluss auslöste«. Der Inspektor hat »dreimal versucht, den Besitzer zur Beseitigung der Mängel zu bewegen, jedoch ohne Erfolg. Auf alle Ermahnungen folgt nur ein stummes Lächeln.«

Pietsch argumentiert, dass er kein Geld für aufwendige Baumaßnahmen habe und kurz vor dem Ruin stehe. Das schlechte Wetter, die Inflation, die schlechten Filme... Tatsächlich erhält auch er eine Gnadenfrist. Doch als die Behörden sehen, dass der scheinbar mittellose Kinobesitzer viel Geld in eine neue Tonanlage investiert, sind sie mit ihrer Geduld am Ende.

Als die Nazis an die Macht kommen, übernimmt bezeichnenderweise Berta Deutschmann das Theater. Dann bricht der Krieg aus, Bomben zerstören die Stadt, im Kinoviertel Kreuzberg sind nur noch neun Kinos geblieben. Die Gewerbehöfe an der Blücherstraße werden von den Bomben verschont. Ein Glück, denn eine einzige Bombe auf diese Höfe hätte gereicht, das halbe Viertel in Brand zu setzten.

Denn seit 1936 lagerten die Nazis in der Blücherstraße 16.000 Kilogramm Zellhornfilme. Mehrmals, aber stets erfolglos, apellierte die Baupolizei, das Filmlager der Reichspropagandaleitung von den Dachgeschossen der Nummer 22 an einen sicheren Ort zu verlegen, da das Lager »im Falle eines Abwurfs von Bomben für die ganze Nachbarschaft eine große Gefahr bedeutet«. Zumal neben den gefährlichen Filmrollen auch die Papiervorräte der hier ansässigen Druckereien lagerten, sowie Unmengen von Holzwolle, mit der die Glaser auf dem Gelände ihre Ware vor dem Bruch schützten. Die Blücherstraße Nummer 22 war ein Pulverfass. Doch die Nazis blieben stur.

Glücklicherweise blieb das Unglück aus und schon im August 1947 luden die Blücherlichtspiele zu einer »Filmsommerwoche« in deutscher und amerikanischer Sprache ein. Auf dem Programm standen Maske in Blau, Rendezvous nach Ladenschluß und Wiener Blut. Der Eintritt betrug 10 Pfennige. In den Fünfzigerjahren erlebte das Kino seinen letzten Höhenflug, dann erstrahlte der Fernseher in den deutschen Wohnzimmern. In den Sechzigerjahren schloss das Kino im Vorderhaus, lediglich in der Schmuddelecke des Hinterhofes ratterte noch der kleine Projektor eines gut versteckten Sexkinos.


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