Kreuzberger Chronik
April 2023 - Ausgabe 248

Herr D.

Der Herr D. und das Salz


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. kochte gerne. Und wenn er kochte, hörte er gerne Radio. Schon in der Küche seiner Mutter hatte immer ein Kofferradio gestanden, und wenn der kleine Herr D. von der Schule kam und in die Küche abbog, spielte dort Musik. Wenn die Sonne schien und die Mutter gute Laune hatte, sang sie mit, und wenn die Nachrichtensprecher das Wort ergriffen, schaltete sie ab. »Die bringen doch immer nur schlechte Nachrichten!«

Es war also sozusagen Tradition, dass man im Hause des Herrn D. beim Kochen Radio hörte. Doch kürzlich erwischte er zuviel Salz. Die Soße war nicht mehr zu retten. Der Herr D. hätte es seiner Mutter gleichtun und die Nachrichten abschalten sollen.

So aber vernahm er schon wieder diese Stimme aus der Vergangenheit, die Stimme von Lenchen, dieser Streberin aus der ersten Reihe, neben die er versetzt wurde, weil die Jungs in der letzten Reihe so viel Blödsinn machten. Dieses Lenchen schrieb immer bei ihm ab, wenn sie nicht weiter wusste, während sie ihre eigenen Aufzeichnungen mit dem Ellenbogen und aufgeklapptem Federmäppchen pedantisch vor seinen Blicken abschirmte. Sie trug lange Zöpfe und hatte eine Stimme, die immer eine Spur zu hoch und zu aufgeregt klang. Er hasste sie, und sie hasste ihn.

Eines Tages, als sie wieder einmal auf sein Heft schielte, klappte auch der kleine Herr D. sein Federmäppchen auf und streckte ihr gleichzeitig die Zunge raus. »Du bist doof!«, flüsterte sie, aber sie konnte in ihrer Wut die Lautstärke nicht richtig regulieren. Die Lehrerin fragte: »Lenchen, was hast du gesagt?«

Lenchen wurde rot.

»Hast du nicht gesagt, er sei doof?«

»Nein, das ist mir nur so rausgerutscht. Weil er mich immer ärgert. Das habe ich gar nicht so gemeint.«

Und nun hörte der Herr D. diese Stimme, die ihn so deutlich an Lenchen erinnert, immer im Radio. Er hatte sich schon damit abgefunden, aber dann sagte sie wieder so einen fürchterlichen Satz, dass der Herrn D. vor Schreck die Kontrolle über das Salz verlor. Sie sagte: Wir führen einen Krieg gegen Russland.

Das darf doch nicht wahr sein!«, rief der Herr D., »meine schönen Pilze! Da findet man einmal im Leben so prachtvolle Steinpilze, und dann redet unsere Außenministerin so ein dummes Zeug!«

Trotz der versalzenen Pilzsoße schaltete der Herr D. auch in den nächsten Tagen wieder das Radio ein und hörte, wie nun alle Politiker auf allen Kanälen versuchten, ihrer Hörerschaft klarzumachen, dass sie das gar nicht so gemeint habe. Doch der Herr D. war sich sicher, dass sie das genau so gemeint hatte. Und dass sie einen ganz ähnlichen Charakter besaß wie einst seine Schulbanknachbarin.

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