Kreuzberger Chronik
Oktober 2022 - Ausgabe 243

Strassen, Häuser, Höfe

Die Bergfriedstraße 6


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von Evelyn Wagner

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Eine Geschichte in zwei Teilen

Die Bergfriedstraße hat keinen guten Ruf. »Junkies in Hochhäusern, Anwohner hilflos« titelte die Bildzeitung. »Ein Anwohner aus dem Hochhaus hat sich bei BILD gemeldet. Über Monate beschwerte er sich bei der Hausverwaltung Gewobag wegen der ungewollten Untermieter. Schließlich muss er an denen vorbei, wenn der Fahrstuhl mal nicht geht. Man antwortete, er und andere Bewohner sollten halt darauf achten, die Tür unten geschlossen zu halten.«

Die Immobilienhändler von Immoscout24 beschreiben die Straße optimistischer: »Großes Zimmer mit Balkon und bester Aussicht im Herzen Kreuzbergs!« Das hört sich noch nicht nach bayerischem Bergfrieden mit Wellnesshotel, Café und Skilift vor der Hoteltür an, aber immerhin nach einer hübschen Wohnung im noch immer hippen Stadtzentrum Berlins.

Doch die Bergfriedstraße entbehrt jeder Idylle. Es ist eine traurige Straße, eine nüchterne, 200 Meter lange Verkehrsverbindung, die im rechten Winkel von der Wassertorstraße abzweigt und gerade mal bis zur nächsten Querstraße reicht. Im zweiten Weltkrieg komplett zerstört führt sie heute an den schmucklosen Betonklötzen pragmatischer Nachkriegsarchitektur vorbei auf eines der letzten Gründerzeithäuser des historischen Exportviertels zu: das denkmalgeschützte Pelikanhaus an der Ritterstraße. (Vgl. Kreuzberger Chronik No. 219)

Der Krieg löschte nicht nur die Straße, er löschte sogar ihren Namen aus. Bevor die Bomben fielen, hieß das Sträßchen in der Nachbarschaft von Prinzen- und Ritterstraße noch »Fürstenstraße.« Am 31. August 1949 kamen Berliner Beamte dann allerdings auf die Idee, die kurze Gerade umzubenennen. Wie sie angesichts einer Steigung von etwa 0% und der wenige Monaten zuvor noch meterhoch mit Trümmern zugeschütteten Trasse auf diesen Namen verfielen, ist kaum nachvollziehbar, jedoch leitet sich der hübsche Straßenname nicht vom romantischen Bergfrieden ab, sondern im Gegenteil: Der Bergfried ist ein zu einer Wehranlage gehöriger kleiner, meist unbewohnter Turm, der sowohl zur Verteidigung als auch als Glockenturm oder Speicher genutzt wurde. Etymologen sind sich über die Herkunft des Wortes uneinig, sicher ist lediglich, dass der Bergfried bereits im 12. Jahrhundert in Sachsen und Thüringen auftauchte.

Doch auch wer vermutet, dass an der Stelle der heutigen Bergfriedstraße einst eine stattliche Burg oder ein alter Speicherturm stand, irrt: Es war lediglich die Nähe zur mittelalterlich klingenden Ritterstraße, die die Stadtoberen einst zur Namenswahl bewegten. Da hätte man die mittelalterlichen Fürsten auch stehen lassen können.

Die neue Bergfriedstraße ist eine, von der es sonst nicht viel zu berichten gibt. Eine Geschichte allerdings gibt es aus jenen Tagen, als sich dort, wo heute das Haus mit der Nummer 6 steht, noch die Fürstenstraße mit der Nummer 15 befand. Erst im April 2022 wurde hier ein kupferfarbener Gedenkstein ins Pflaster eingelassen, um diese Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren. Es ist schon der vierte Stein vor der Nummer 6. Ilse Kohn steht darauf. Auch auf den drei anderen steht Kohn. Sie sind die Steine für ihre Eltern und die Tochter.

Ilse Kohns Lebenslauf ist eine Geschichte gescheiterter Fluchten. Geboren 1901 in Frankfurt am Main zieht sie mit ihrer, nach dem 1. Weltkrieg heimatlos gewordenen Familie und anderen jüdischen Flüchtlingen aus Ostpreußen nach Westen und kommt Anfang der 20er Jahre nach Berlin. Isidor, der Vater, eröffnet in der Wrangelstraße 136 einen Kolonialwarenladen, Tochter Ilse arbeitet als Hausmädchen in der Stadt und in der Nähe Berlins als Magd auf dem Land.

Eine ungewollte Schwangerschaft gehörte damals zum nicht seltenen Schicksal von Hausmädchen und Mägden. Als Ilse schwanger wird, ist sie 32 Jahre alt und wohnt in der Wiener Straße. Der Vater, wird erzählt, sei »Arier« gewesen und will von der neugeborenen Gisela nichts wissen. Also zieht Ilse mit ihrer Tochter zurück zu den Eltern. In die Fürstenstraße Nummer 15.

Sechs Jahre vergehen, da klopft die Gestapo bei Ilse Kohn an der Tür. Man hat ihr sträfliches Verhältnis zu einem »Arier« nicht vergessen. Sie wird verhaftet, die Anklage: Rassenschande. Drei Monate später wird sie verurteilt und im Juni 1939 nach Ravensbrück deportiert, wo sie im Steinbruch arbeitet, bis sie sich die Hand bricht. Der Vater versucht, die Tochter frei zu bekommen, und tatsächlich gelingt es mit Hilfe der Jüdischen Gemeinde, ihr eine Stellung als Hausmädchen in England und ein Visum zu vermitteln. Bereits im Juli desselben Jahres verlässt Ilse Kohn Deutschland, allerdings ohne die Tochter. Die muss, Anweisung der Nazis, bei den Großeltern bleiben.

Doch auch die Großeltern sind in Deutschland nicht mehr sicher. Mit dem 3. großen Altentransport werden sie im Oktober 1942 nach Theresienstadt gebracht und ermordet. Ilse Kohn weiß, in welcher Gefahr sich ihre Tochter befindet. Es gelingt ihr, auch für Gisela ein Visum für das sichere Ausland zu besorgen. Doch die Nazis in Berlin verweigern dem neun Jahre alten Mädchen die Ausreise.

Wenige Wochen später verlässt Ilses Tochter Berlin mit dem 34. Osttransport in Richtung Auschwitz. Die Mutter hat den Tod der Tochter nie verkraftet. Am 22. April sind sie wenigstens ihre zwei kleinen Steine zusammengekommen - vor der Bergfriedstraße Nr. 6. •

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