Kreuzberger Chronik
Oktober 2022 - Ausgabe 243

Briefwechsel

Krieg und Frieden


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von Dietmar Schürer

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Dietmar Schürer über »100 Milliarden für die Aufstockung des bundesdeutschen Waffenarsenals« in Ausgabe 242

Sehr geehrte Redaktion, sehr geehrter Herr Unfried

In der letzten Ausgabe der Kreuzberger Chronik beenden Sie Ihre Reportage über das Volksbegehren zur Einrichtung eines bedingungslosen Grundeinkommens, deren Probephase den Steuerzahler 70 Millionen Euro kosten würde, mit dem Satz: »Aber was sind schon 70 Millionen Euro für einen guten Zweck gegen 100 Milliarden für die Aufstockung des bundesdeutschen Waffenarsenals!«

Bravo!

Ich habe es immer als sympathisch empfunden, wenn Sie sich mit Ihrem kleinen Heft nicht in die große Politik eingemischt haben, sondern in den bescheidenen Grenzen unseres Bezirkes verblieben und vor unserer Haustüre kehrten. Ich finde jedoch, dass in den bewegten Zeiten, in denen wir uns befinden, jede noch so kleine Publikation verpflichtet ist, zu warnen und zu korrigieren. Zumal die großen Publizisten alle in das gleiche Horn stoßen. Ich würde mich aus diesem Grund sehr freuen, wenn Sie meine folgenden Gedanken auf Ihrer Leserbriefseite veröffentlichen könnten - auch wenn sie, was die Länge angeht, vielleicht den üblichen Rahmen sprengen. Schließlich geht es um nichts Geringeres als Krieg und Frieden.

Wenn ein Mensch oder auch ein Tier von Heute auf Morgen seine Gewohnheiten ändert, dann ist das kein evolutionärer, kein natürlicher oder logischer Prozess, sondern dann geschieht das in der Regel aus Not. Es ist kein logischer nächster Schritt, sondern ein Bruch in der Entwicklung, ein Sprung. Ob dieser Sprung zur Rettung des Individuums führt oder nicht, ist eine Frage des Schicksals. Auch wenn eine Nation innerhalb weniger Wochen ihre Prinzipien und ihre seit vielen Jahren verfolgte Politik aufgibt, dabei sogar das Grundgesetz in Frage stellt und abändert, überlässt man die Zukunft dem Schicksal.

Dass wir uns derzeit in einer solchen Situation befinden, war den deutschen Politikern bald klar. Anders ist der viel zitierte und ständig wiedergekäute Satz von der »Zeitenwende« nicht zu deuten. Ins Spiel gebracht haben den Begriff die Medienstrategen der deutschen Politik jedoch nicht, um uns auf die lauernde Gefahr aufmerksam zu machen, sondern um ihre Schritte zu rechtfertigen und die Kehrtwende in der erfolgreichen Friedenspolitik dieses Landes zu rechtfertigen. Und um somit das Volk auf ihre Seite zu bringen.

Es ist noch nicht lange her, da machten sich die Moralapostel des Feuilletons über den militaristischen Sprachgebrauch von Fußballfans und Kommentatoren lustig. Heute streiten die Feuilletons darüber, ob man Fußballer-innen oder Fußballerinnen und Fußballer sagen soll. Als 2006 die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland ausgetragen wurde, wurde älteren Beobachtern am Spielfeldrand noch mulmig angesichts der vielen kleinen Deutschlandfähnchen. Heute sind die kleinen Fähnchen wieder so groß wie vor dem Krieg.

Siebzig Jahre lang hatte das Wort »Sieg«, das einst so nah beim »Heil« gestanden hatte, einen üblen Beigeschmack. Selbst die leidenschaftlichsten Sportkommentatoren mieden das Wort wie Odysseus die Sirenen. Und heute? Siege überall, im Fernsehen, in den Zeitungen, beim Fußballspiel ebenso wie beim Golfspiel. Es wird nicht mehr leise und bedacht ausgesprochen, es wird laut in die Welt hinausgeschrien, selbst bei lächerlichen Drittligaspielen im Handball spricht man von Siegen als ginge es um Waterloo. Diese Verwahrlosung der deutschen Sprache war auch in Zeiten der Weimarer Republik ein erstes, aber von den meisten ignoriertes Anzeichen für die drohende Katastrophe.

Doch nicht nur in Kommentaren zu Sport und Spiel, auch in der Politik hat sich der »Sieg« wieder einen festen Platz im Vokabular errungen. Dabei ging es bislang nur um »Wahlkampfsiege« und die dazugehörigen »Niederlagen«, die man den politischen Gegnern »zufügt«. Das magere, heutigen Politikern zur Verfügung stehende Vokabular zeigt den begrenzten Horizont, der aus den Tiefen der politischen »Grabenkämpfe« kaum mehr herauskommt.

Inzwischen bekriegen sich die Parteien jedoch nicht mehr nur untereinander, sondern sie bekriegen ihre geographischen Nachbarn. Wenige Tage nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine forderte die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann in einer Fernsehtalkshow bereits den »Sieg der Ukraine«! Derartige Formulierungen waren im öffentlich rechtlichen Fernsehen siebzig Jahre lang undenkbar. So etwas hätte die Politikerin vor wenigen Jahren noch ihr Amt gekostet.

Unsere Zurückhaltung bei kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa und unser umsichtiges Verhalten brachte uns Frieden und internationale Anerkennung. Das ist Vergangenheit. Es ist gelungen, halb Deutschland davon zu überzeugen, dass es die Ukraine in ihrem Krieg unterstützen muss. Mit Geld, mit Waffen, und mit Menschen, die diese Waffen bedienen können. Es ist tatsächlich gelungen, halb Deutschland davon zu überzeugen, dass es wichtiger ist, 100 Milliarden unseres Lohnes, unseres Verdienstes – denn nichts anderes ist die Steuer, die jeder Deutsche in jenen Topf einzahlen muss, aus dem dieser Krieg nun mitfinanziert wird - , in Panzer und Raketen anstatt in Schulen, Theater, öffentliche Einrichtungen oder vertrocknende Parkanlagen zu investieren, und es würde mich nicht wundern, wenn halb Deutschland frenetisch applaudieren würde, wenn unser sonst so zurückhaltender Bundeskanzler mit von CDU und FDP geforderter lauter Stimme im Bundestag verkünden würde, dass wir von nun an auch unsere Soldaten an die Front schicken werden.

Wie sehr wir uns von den Leitlinien unserer friedlichen Nachkriegspolitik entfernt haben, um in eine Vorkriegspolitik zu stolpern, wurde am Morgen des 10. September 2022 deutlich, als im Radio folgende Meldung zu vernehmen war: »Außenministerin Annalena Baerbock ist heute morgen zu einem unangekündigten Besuch in Kiew eingetroffen, um ein Zeichen gegen die »drohende Kriegsmüdigkeit Deutschlands« zu setzen!« Einige Wochen zuvor sprach sie davon, Russland »ruinieren« zu wollen. Es sind nur Worte, aber auch am Anfang eines jeden Krieges war das Wort, und diese Worte einer Außenministerin müssten eigentlich jedem klar machen: Wir befinden uns in einem Krieg.

Ich würde mich freuen, wenn meine Gedanken in Ihrem Blatt gelesen werden würden.

Mit frd. Grüßen - Dietmar Schürer (10. September 2022)




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