Kreuzberger Chronik
März 2022 - Ausgabe 237

Geschäfte

Die Geflügeloase


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von Hans W. Korfmann

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Tierfreunden kommt das Grauen vor der Vitrine. Anderen läuft das Wasser im Munde zusammen.

Was für eine Wortkombination: Geflügel-Oase! Der kleine Strich zwischen den beiden Substantiven muss ein Gedankenstrich sein. Ein Aufruf zum Innehalten und Nachdenken. Oder ist es doch nur ein Bindestrich, der verzweifelte Versuch, zusammenzubringen, was nicht zusammengehört: Die Oase, Sinnbild einer blühenden Landschaft inmitten einer endlosen Wüste, ein mit Palmen und Farnen umstandener blauer See. Und auf der anderen Seite des Bindestriches das Bild einer Geflügelfarm, eines trostlosen Internierungslagers, einer kurzen Zwischenstation in der unendlichen Leblosigkeit. Käfigen voller winziger Küken, nur dazu geboren, unseren Hunger zu stillen.

Und doch gehört die Geflügel-Oase zu den Highlights der Markthalle. Hier treffen die verschiedensten Naturen zusammen, begegnen die Junkies aus der Heimstraße den Feinschmeckern aus dem wohlhabenden Möckernkiez mit ihren Eigentumswohnungen und Blick auf den Park. Die einen zieht der Duft gegrillten Fleisches an, die anderen die französischen Maishähnchen, wieder andere die Vitrine mit dem dunkelroten Wildfleisch. So auch den gepflegten Besitzer des Gugelhofs, der in seinem Restaurant am Prenzlauer Berg einst Präsident Clinton nebst Madeleine Albright und Kanzler Schröder bekochen musste.

»Du hier bei den Grillhähnchen?«, begrüßt ihn in der Markthalle einer seiner Stammgäste. »Das Wild ist super! Und zu Ostern gibt es hier spanische Milchzicklein. Sowas kriegst du sonst nur im KaDeWe!« Nach einer kurzen Plauderei trennen sich die Wege von Gast und Restaurantbesitzer. Der eine geht nach Osten, wo der Wildschweinrücken liegt, der andere nach Westen, wo das gerupfte Federvieh gelandet ist. Erst, als er die Halle verlässt, wirft der Gast mit seinen zwei Hähnchenkeulen in der Plastetüte noch einen scheuen Blick in die Auslage mit dem Wild. Und stellt fest: Der Mann hat recht.

Das Wild sieht auch in rohem Zustand schon ganz appetitlich aus: nicht blutig, nicht wässrig und blass, sondern so dunkelrot wie ein reifer Apfel. Die Auswahl ist groß, es gibt Wild in allen Varianten, vom edlen Rehrücken ohne Knochen über die kleinen, rosigen Hirschsteaks bis hin zu Wildschweinbratwürsten, das Stück für schlanke 1 Euro 50. Es gibt Keulen vom Reh, vom Hirsch oder vom Wildschwein ebenso wie Gulasch vom Schwein oder vom Hirschen, und einen Wildschweinrücken, das Kilo für ein Altberliner »Pfund«.

Zwischen dem Wild und dem Geflügel liegen die spanischen Kaninchen mit ihrem rosigen Fleisch, daneben die zarten Barbarieenten, die einst aus Südamerika einflogen, die Tauben, Wachteln, Perlhühner, und Stubenküken. Puten und Gänse gibt es in der Oase nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern das ganze Jahr über. Nur die Fasane, die früher in ihrem farbenprächtigen Federkleid vor den Ständen der Wildverkäufer hingen, fehlen im der Markthalle.

Und dann endlich, hinter den Puten und den Gänsen, dem Griebenschmalz und den winzigen Hühnerherzchen und allem möglichen Kochzubehör, kommen die Hähnchen. Gelbe, weiße und rosafarbene, Schenkel, Flügel und Filets, dottergelbe Suppenhühner von erstaunlichen Größen und kleine, zarte Grillhähnchen. Und dann die teuren Franzosen, die berühmten französischen Loué-Hähnchen mit ihrem noblen Etikett und der eidesstattlichen Versicherung, dass diese Tiere einen »unbegrenzten Auslauf« hatten, bevor auch sie das gleiche Schicksal erlitten wir ihre blassen deutschen Artgenossen. Die Franzosen haben Kreuzberg erobert, es gibt, so wird behauptet, niemanden unter den Alteingesessenen, der diese Hähnchen nicht schon in irgendeiner langen Kreuzberger Nacht beim Nachbarn oder der Nachbarin gekostet hat.

Doch es muss nicht alles Federn oder Fell gehabt haben in der Markthallen-Oase. Vorne, am Imbiss, wo sich die hungrigen Arbeiter schon in den frühen Morgenstunden eine Hähnchenkeule bestellen, gibt es zu Mittag eine komplette Mahlzeit mit Fleisch und Grünkohl, Kartoffelsalat oder Sauerkraut. Oder die legendäre Hühnersuppe für unschlagbare 1.20! Natürlich gibt es Gänsebraten nebst Rotkohl und Kartoffeln oder Kartoffelpüree, Ente oder Putenschenkel, und natürlich die knusprig braunen Hähnchen, die so aussehen wie in alten Donald-Duck-Heftchen. Hähnchen im Ganzen und im Halben, Hähnchenschenkel, Hähnchenflügel und Hähnchenrouladen. Nur Münchhausens gebratene Hühner, die den hungrigen Seefahrern auf einer Insel, die aus einem einzigen, riesigen schwimmenden Käse bestand, geradewegs in den Mund flogen, die gibt es selbst in der Oase nicht.

Seefahrer aber sind schon des öfteren in der Oase gestrandet, neben Piloten, Zahnärzten, Kanalarbeitern, Studenten, Touristen, Polizisten und Obdachlosen, Menschen aller Couleur, sogar die eingefleischten Vegetarier kommen manchmal nicht vorbei an diesen duftenden, gegrillten Fleischbergen. Im Sommer sieht man sie manchmal draußen vor der Halle an den Tischen sitzen und sich verstohlen die Finger lecken.

So sind alle glücklich, wenn sie die Geflügel-Oase verlassen, und wenn sie dann noch einen letzten Blick auf den Gedankenstrich werfen, sieht man sie wohlwollend nicken: Neben all den eingeschweißten, leichenblassen, wasserlöslichen und in jeder Hinsicht geschmacklosen Fleischportionen der Supermärkte ist der Geflügelstand in der Markthalle tatsächlich noch eine wahre Oase. •


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