Kreuzberger Chronik
Juni 2022 - Ausgabe 240

Herr D.

Der Herr D. und der Stromverkäufer


linie

von Hans W. Korfmann

1pixgif
Der Herr D. machte sich Sorgen wegen der Gaspreise. Um der Altersarmut vorzubeugen, erlaubte er sich als unbezahlter Mitarbeiter des Gaslieferanten – die Aufgabe des Herrn D. bestand darin, zweimal im Jahr den Zählerstand abzulesen - die Ziffern auf Grund des Alters nicht mehr exakt entziffern und angeben zu können. Als einer der neuen Mieter Zweifel an der politischen Korrektheit eines solchen Verhaltens anmeldete, wies er den jungen Mann darauf hin, dass sein Gaslieferant den vermeintlichen Versorgungsengpass gnadenlos ausnutzen würde, um ihm den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen. Der junge Mann widersprach und der Herr D. fuhr fort: »Wenn mein Gaslieferant korrekte Zahlen möchte, dann muss er eben einige Arbeitsplätze mehr finanzieren!«

Dann fuhr er in den Urlaub. Kaum hatte er es sich im Liegestuhl mit Blick aufs Meer bequem gemacht, kündigte das Telefon eine Nachricht an. Sein Stromlieferant wollte, dass er den Zählerstand ablese. Davon ab, dass der Herr D. nicht einmal wusste, wo sich der Stromzähler befand, da diese Aufgabe stets von einem Mitarbeiter des Stromhändlers erledigt worden war, befand er sich gerade 2000 Kilometer von seinem Zähler entfernt. Er schrieb zurück, er sei gerade im Urlaub und würde dem Wunsch nachkommen, sobald er zurück sei.

Einen Tag später piepste es wieder im Liegestuhl. Man habe den Herrn D. nicht vergessen, aber derzeit zu viel zu tun. Sein Anliegen würde zeitnah bearbeitet. Zwei Tage später teilte man dem Stromverbraucher mit, er könne die Ablesung nach dem Urlaub vornehmen.

Drei Tage danach erhielt er die Nachricht, man benötige »dringend« seinen Zählerstand. Der Herr D. antwortete wie zuvor, fügte jedoch das Datum der Rückkehr hinzu. Auch die Antwort war die gleiche wie zuvor: Man habe ihn nicht vergessen. Zwei Tage später erklärte sich der Stromverkäufer abermals mit der Verspätung der Auftragsausführung einverstanden. Nach einer weiteren Woche aber flehte der Konzern, dass er »jetzt« dringend den Zählerstand »benötige«.

Der Herr D schrieb: »Lieber doofer Computa! Ich habe Dir schon zwei mal gesagt, dass ich noch im Urlaub bin. Und Du hast geantwortet, ich soll den Zählerstand angeben, wenn ich wieder zurück bin. Ich glaube, Du brauchst dringend auch einen Urlaub.«

Zuhause fand der Herr D. ein Formular des Stromhändlers im Briefkasten und machte sich auf die Suche nach dem Zähler. Erfolglos. Schon wollte er schreiben, man möge jemanden schicken, da traf er seinen Hausherren. »Wissen Sie, wo mein Stromzähler ist?«, fragte der Herr D. »Die sind alle im Keller!« antwortete der. »Einer neben dem anderen. Der brauchte nur fünf Minuten für´s ganze Haus!«

»Das ist Kapitalismus.«, sagte der Herr D. Sein Hausherr nickte, und der Herr D. war froh, dass es auch noch alte Leute gab im Haus.


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg