Kreuzberger Chronik
Juli 2022 - Ausgabe 241

Herr D.

Der Herr D. sucht einen Sitzplatz


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. sah nicht aus wie die jungen Leute aus den Eigentumswohnungen in Riehmers Hofgarten. Er sah aber auch nicht aus wie die Camper auf dem Marheinekeplatz, die man mit ihren paar Habseligkeiten durch die halbe Stadt scheuchte. Doch als er an diesem Samstagvormittag von seinem Einkauf heimkehrte, musste er ernsthaft darüber nachdenken, ob er künftig an Samstagen nicht doch besser das neue Jackett anziehen sollte anstatt des alten, an das er sich in 22 Jahren gewöhnt hatte.

Eigentlich hatte er in der Markthalle nur Salat und Fisch kaufen wollen, aber dann kam er an dem Fleischspieß des Griechen vorbei und konnte nicht widerstehen. Nun stand er mit seiner Pita vor der Tür und fand keinen freien Stuhl. Da sah er in dem Café an der Ecke zwei Bekannte, die sich köstlich zu amüsieren schienen. Der Herr D. setzte sich dazu und wollte gerade in seine Pita zubeißen, da kam die Kellnerin. »Was darf ich bringen?« – »Ach!«, sagte der Herr D., »ich bin eigentlich gerade beim Essen!«

Kreuzberg, hatte er gedacht, sei ja nicht Braunschweig. Hier sah man das nicht so eng, hier herrschte ein Geist der Toleranz. Außerdem kannte man ihn hier, eine Monatsmiete hatte er im Lauf der Jahre bestimmt schon weitergegeben. Dessen ungeachtet ließen die heruntergezogenen Mundwinkel der Kellnerin nur eine Interpretation zu. Der Herr D. sagte: »Ich glaube, die möchte, dass ich gehe!« – Seine beiden Tischpartner nickten. Die Zeiten hätten sich eben geändert!

Nun schlenderte der Herr D. über den Flohmarkt und wollte sich gerade eines dieser alten Lampengläser ansehen, da sagte der Trödler: »Wenn Sie bitte mit ihrem Döner woanders herumkleckern könnten!« – »Das ist kein Döner!«, protestierte der Herr D. »Aber der junge Mann in seinem schicken Jackett hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und tat, als suche er in den Kartons nach etwas sehr Wichtigem. Anstalten, dem Herrn D. zu antworten, unternahm er keine.

Schlecht gelaunt verließ er die alternative Konsummeile und setzte sich auf einen Fahrradständer. Er hatte noch keine zwei Mal in seine Pita gebissen, da kam der Besitzer des Fahrrades und meinte, ob er sich nicht einen anderen Platz zum essen suchen könne als ausgerechnet sein Fahrrad.

Dass die junge Frau in dem schicken roten Mantel, mit der er wenig später beinahe kollidierte, weil sie in ihr Handy schaute und den Gegenverkehr nicht beachtete, nur giftige Blicke auf seine Pita warf, anstatt ihn zu verhauen, musste ein Beweis dafür sein, dass es doch einen Gott gab, der alles beobachtete und dem der Herr D. leid tat.

Zuhause stand er vor dem Spiegel, bezupfte die Jacke, besah die Schuhe und überlegte, ob er womöglich doch zu schlecht angezogen sei für dieses alte Viertel mit seinen neuen Anwohnern.


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