Kreuzberger Chronik
Dez. 2022/ 2023 - Ausgabe 245

Strassen, Häuser, Höfe

Die Zossener Straße 1


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von Michael Unfried

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Foto: Alf Trenk
Es sieht unscheinbar aus und es gibt auch nicht viel zu berichten von dem auf dem Grundstück der 1980 abgerissenen Kriegsruine errichteten Neubau an der Baruther Straße. Um das verschwundene Gebäude jedoch mit der stolzen Nummer 1, das Ende des 19. Jahrhunderts ein Stück entfernt von der ehemaligen Promenade der Belle Alliance mit ihren Offizierswohnungen entstand, ranken sich viele Legenden. Die meisten stammen aus den Nachkriegsjahren, als von den schmuckvollen Erkern und dem stolzen Stuck nicht mehr viel zu sehen war.



Das Haus war eine Ruine, lediglich im Erdgeschoss und der Beletage, wo noch einige Fensterscheiben vor Regen und Kälte schützten, war noch Leben auszumachen. Im ersten Stock hatte Klavierhelmut, der auf dem Gewerbehof gegenüber seine Werkstatt hatte, eines seiner Lager eingerichtet. Sein Freund und Schachpartner Rudi Lesser, der später in die Solmsstraße zog - wo heute eine Gedenktafel an ihn erinnert -, hatte sich bereits 1956 in einer der unzerstörten Wohnungen der Ruine eingerichtet. Auch ganz oben, in der leerstehenden Etage unter dem Dach, sah man ab und zu Licht. Ein Mieter des Nachbarhauses hatte die Wand durchbrochen und seine Wohnung um ein Zimmer erweitert.

Auch von einer Studenten-WG wurde erzählt, die in den Siebzigern im zweiten oder dritten Stock gehaust hätte. Da die Stromleitungen längst gekappt worden waren, wandten sie sich an den freundlichen Nachbarn auf der anderen Straßenseite, der ein Kabel über die Straße spannte, damit die Studenten wenigstens Licht hatten. Als der Nachbar eines Abends Damenbesuch empfing, führte er seine Verehrte ans Fenster und sagte: »Schau mal da rüber, ich zeige Dir mal, was ich alles kann!« Dann zog er heimlich den Stecker. Die Frau soll geradezu überwältigt gewesen sein von den spiritistischen Fähigkeiten dieses Mannes. Ansonsten war es still geworden in den Wohnungen am Eck.

Im Erdgeschoss aber tobte das Leben. Kurt Mühlenhaupt hatte 1959 das Lokal der Borkowskis, die im Erdgeschoss Bier und Schnaps ausschenkten, übernommen. Zuerst sollte das neue Etablissement Zum Goldenen Scheißhaus heißen, doch der Name wurde vom Amt nicht genehmigt. Man einigte sich auf Leierkasten, die Brauerei spendierte ein Fass Bier und schon am ersten Abend war der Laden so voll wie nie. Aller Alkohol war ausgetrunken, ein Geländer zerbrochen, Wirt und Wirtin todmüde, aber eine Legende war geboren.

Die meisten Geschichten aus dem Haus mit der Nummer 1 stammen aus Mühlenhaupts Künstlerlokal. Viele von ihnen haben den Weg in Zeitschriften und Bücher gefunden, wo sie noch heute nachzulesen sind. Die meisten Exemplare der NKZ allerdings, der Neuen Kreuzberger Zeitung, dürften in Allesbrennern und Kachelöfen gelandet sein. Die auf billigem Papier gedruckten Texte, die in unregelmäßigen Abständen erschienen und sich auch sonst an keine publizistische Konvention hielten, erreichten keine hohen Auflagen. Die in jedem Sinn alternative Journaille, die es auf knapp fünfzig Ausgaben, dafür aber 25 Jahrgänge brachte, ist heute vergriffen und vergessen. Doch im Nachlass Klavierhelmuts fand sich noch ein sorgfältig verschnürtes Bündel dieses amüsanten und durchaus erhellenden Zeitdokuments.

In Ausgabe III vom Frühjahr 1972 erinnert sich der Herausgeber Horst J. Runkel anlässlich der drohenden Schließung der berühmtesten Kneipe Kreuzbergs an einige unvergessliche Kreuzberger Nächte:

»Nacht für Nacht zog er sie alle an: die Künstler und Traumtänzer, die Nachtwandler und Ruhelosen, aber auch die Typen vom Kiez. Hier wurden Talente entdeckt – gefördert und wieder zerstört. Erschien Günter Bruno Fuchs mit seinem Gefolge, ertrank der Leierkasten in einem Ozean von Poesie und Schnaps. Trat Oskar Huth in Erscheinung, erklangen verzaubernde Weisen auf dem Piano, abgelöst von den filigransten und köstlichsten Erzählungen, die man in Kreuzberg je gehört hatte. Das dröhnende Lachen Robert Wolfgang Schnells jubelte jeden Trübsinn zur Kneipe hinaus. An den Wänden träumten die ersten Bilder von Friedrich Schröder-Sonnenstern ihre transzendentalen Träume vor sich hin. Und mitten in aller Turbulenz saß manchmal Johannes Bobrowski, gütig, alles verstehend. (…)

Für handfeste Realität sorgte Wirtin Rosi. Günter Grass wurde von ihr mit einer Ohrfeige und der Bemerkung begrüßt: Du wirst von mir nicht anders behandelt als meine anderen Gäste. Drei Rocker wurden von ihr alleine in die Flucht geschlagen. Ihre furienhaften Zweikämpfe mit der dicken, blonden Inge versetzte das Publikum in Ekstase, und die anschließende Versöhnung kostete einige Weinbrandflaschen den Hals. Wer nicht wenigstens einmal mit ihr gebalgt, nicht wenigstens einmal von ihr Lokalverbot bekommen hatte, der war kein Stammgast.

Einstmals wollte Rosi sich verloben. Das bedeutende Ereignis fand ihrem Wunsch gemäß in einem vornehmen Rahmen statt: Geladene Gäste, Abendgarderobe. Rosen wurden geschenkt und – oh Wunder! – es wurde Sekt getrunken im Leierkasten. Jedoch das Fest brach jäh ab: Der Auserwählte lag plötzlich ohnmächtig auf der Couch. Rosi hatte ihn k.o. geschlagen.«

Horst J. Runkel, der unermüdliche Herausgeber des satirisch- literarischen Lokalblattes, beendet seine Betrachtung über die Zossener Straße 1 nicht ohne eine kleine Überdosis Wehmut, wenn er schreibt: »Ja, so schön und poetisch war damals die Zeit!« •




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