Kreuzberger Chronik
Dez. 2022/ 2023 - Ausgabe 245

Geschichten & Geschichte

Daheim im Unheimlichen


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von Eckhard Siepmann

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Es gibt Erzählungen, die sind zu schön, um nicht wahr zu sein. Oskar Huth, um 1940 Judenretter und um 1960 der ungekrönte König der geistreichen Spelunkenschwadroniererei, war einer der Stammgäste in Maler Mühlenhaupts Wirtshaus »Leierkasten«. Eines Nachts, der Morgen graute schon, zog es den blauen Huth zum nur wenige Schritte entfernten Friedhof II der Jerusalems- und Neuen Kirche. Es war Sommer, die ersten Vögel räusperten sich, und aus den verfallenden Gruften schlug ihm ein morbider Hauch entgegen. Huth kletterte über die Friedhofsmauer, grüßte die Salonière Rahel Varnhagen, zwinkerte dem Genie des Berliner Witzes Adolf Glaßbrenner zu und erreichte schließlich das Grab mit den Gebeinen des Erzählvirtuosen Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Endlich ein kongenialer Gesprächspartner! Huth sank an dem Grabstein nieder, sprach zu dem Verstorbenen, hörte ihm zu - und schlief ein. Der mächtige Grabstein hielt widrige Winde ab, der Schlafende mag geträumt haben von den Elixieren des Teufels, oder, vielleicht angenehmer, von dem Fräulein von Scuderie.

Die Inschrift des hohen Steins umreißt die vielseitigen Begabungen des Verblichenen: E. T. W. Hoffmann / geb. Königsberg in Preußen / den 24. Januar 1776 / gest. Berlin den 25. Juny 1822. / Kammer Gerichts Rath / ausgezeichnet / im Amte / als Dichter / als Tonkünstler / als Maler / Gewidmet von seinen Freunden. Der Grabstein des Exzentrikers Hoffmann vertrüge sicher auch ein heftiges Urteil von Heine: »Seine Werke sind nichts anders als ein entsetzlicher Angstschrei in zwanzig Bänden.«

Theodor war das Kind einer hysterischen Mutter und eines klugen, versoffenen, liederlichen Vaters. Nach dem Tod der Eltern wuchs das Kind bei einem Onkel auf, der die Liebe zur Musik in ihm beförderte. Mit 13 begann er kleine Stücke zu komponieren, später kamen opulente Bühnenwerke hinzu. Aus Liebe zu Mozart tauschte Theodor seinen dritten Vornamen in Amadeus um. Aus seinen Tonwerken lugte überall der verehrte Meister heraus, die Zeitgenossen waren nicht gerade begeistert. Dann aber passierte ein Unglück, das Hoffmanns Fantasie entsprungen sein könnte und wie ein Menetekel über seinem widerspruchsreichen Dasein erscheint. 1816 wurde im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt seine Oper Undine uraufgeführt. Sein Freund Friedrich de la Motte-Fouqué hatte das Libretto beigesteuert, Baumeister Schinkel die Dekorationen. Das Publikum zeigte sich aufgeschlossen, rauschender Beifall!

Und dann die Katastrophe vom 29. Juli 1817. Am Gendarmenmarkt geht das Schauspielhaus in Flammen auf, alle Kulissen und Dekorationen der Undine verbrennen, fast griff das Feuer auf Hoffmanns nur wenige Meter entfernte Wohnung an der Taubenstraße, Ecke Charlottenstraße über: »Ich saß gerade am Schreibtisch, als meine Frau aus dem Eckkabinett erblasst eintrat und sagte: Mein Gott, das Theater brennt. Als Feuerarbeiter, zu denen sich Freunde gesellt hatten, an meine Türe schlugen, hatten wir mit Hilfe der Köchin schon Gardinen, Betten und die mehrsten Möbel in die hinteren, der Gefahr weniger ausgesetzten Zimmer getragen. In den vorderen Zimmern sprangen nachher sämtliche Fensterscheiben und die Ölfarbe tröpfelte von der Hitze herab.«

Komponieren erschien zunächst als Lebensaufgabe des Juristen, dessen beruflicher Weg von Königsberg über Berlin, Warschau und Posen nach Bamberg lief und schließlich in Berlin endete. Erst 13 Jahre vor seinem frühen Tod wird Hoffmann klar, daß er das, was ihn bedrängt, seine seelische Zerrissenheit und seine innere Bilderflut des Abgründigen am ehesten in der Literatur bewältigen kann. In diesen wenigen Jahren zwischen 1808 und 1822 schafft er in Berlin ein Sprachwerk, das ihn zu einem Meister der europäischen Schwarzen Romantik macht und Dichter wie Poe, Baudelaire, Dostojewski inspiriert.

In Deutschland begegnet man seinem exzentrischen Teufelszeug eher skeptisch. Goethe mosert: »Fürwahr, die Begeisterungen Hoffmanns gleichen oft den Einbildungen, die ein unmäßiger Gebrauch des Opiums hervorbringt und welche mehr den Beistand des Arztes als des Kritikers fordern möchten.«

Geneigter und humorvoller Heine: »Hoffmann sah überall nur Gespenster, sie nickten ihm entgegen aus jeder chinesischen Theekanne und jeder berliner Perücke; er war ein Zauberer, der die Menschen in Bestien verwandelte und diese sogar in königlich preußische Hofräthe. Wenn Hoffmann seine Todten beschwört und sie aus den Gräbern hervorsteigen und ihn umtanzen: dann zittert er selber vor Entsetzen, und tanzt selbst in ihrer Mitte, und schneidet dabei die tollsten Affengrimassen.«

Der Dichter leidet sein Leben lang unter einer ungünstigen Konstitution, ein kleines, unruhiges Männchen »mit dem beweglichsten Mienenspiel und stechenden Augen« , so sein Dichterkollege Tieck. »Er hatte etwas Unheimliches, und fürchtete sich zuletzt selbst vor seinen eigenen Gespenstern.«

Hoffmans Urthema ist das »Mißverhältnis des inneren Gemüts mit dem Außenleben«, wie es in der Erzählung Die Serapionsbrüder heißt. Die innere Zerrissenheit findet literarisch Gestalt in der Figur des Doppelgängers, der in vielen seiner Erzählungen ein entnervendes Unwesen treibt. Zwiespältig wie sein »inneres Gemüt« ist auch das Alltagsleben des Dichters. Bei Tag ist er pflichtbewußter Jurist am Kammergericht in der Lindenstrasse, nachts läßt er am Gendarmenmarkt bis zum Morgengrauen die Puppen tanzen.

An der Französischen Straße, Ecke Charlottenstraße erhebt sich heute ein häßlicher Hotelneubau. An dieser Stelle stand das sagenumwobene Weinhaus Lutter und Wegner. Hier zechten und schwadronierten der Philosoph Hegel und die Tänzerin Josephine Baker, Heinrich Heine und Marlene Dietrich, Kanzler Bismarck und die Tiller Girls, Chamisso und Claire Waldoff.

Sie alle können jedoch an Wirtshaus-Credibility nicht zwei Wortzauberern das Wasser reichen: dem Großstadtromantiker Amadeus Hoffmann und dem Heldendarsteller Ludwig Devrient - beide begnadete Kommunikatoren mit blühender Fantasie und scharfem Witz. Wenn sie abends zusammensitzen, bildet sich um sie eine ehrfürchtig staunende Menge von Fans. Kaum jemand wagt, sich einzumischen. Könnten wir nur als Kneipenmäuschen dabei sein! Wir sähen, wie der eine die dünnen Lippen zusammenpresst und auf dem Tische trommelt, als könnte er dadurch die Dämonen in seinem Inneren zur Ordnung rufen, während der andere in seinen schwarzen Locken wühlt, wobei der Brust sich jene unheimlichen Seufzer entringen, mit denen er als Geist in Shakespeares Hamlet die Zuschauer in den Bann schlägt. Wir sähen, wie sie gegen Morgen sich champagnerbenelbelt erheben, den mondbeschienenen Gendarmenmarkt heftig gestikulierend überqueren und in der Finsternis der Berliner Nacht verschwinden.





So sieht sie die Legende: Hoffmann und Devrient im Wirtshaus - (Gartenlaube 1856)







An seinem 55. Geburtstag spürt Hoffmann erstmals Anzeichen einer rätselhaften Lähmung. Sie ergreift unaufhaltsam und schmerzhaft Arme und Beine. Er hört nicht auf zu fantasieren, zu schreiben und schließlich zu diktieren. Eines Morgens wähnt der Kranke sich schmerzfrei und glaubt an seine Gesundung, aber es ist der Tag seines Todes.

Oskar Huth, der Grabschläfer, liegt nun selbst seit 19 Jahren wenige Schritte von Hoffmann in der Erde vor dem Halleschen Tor. 150 Jahre vor seinem Besuch bei dem Geistesverwandten hatte es einen anderen Hoffmannfreund in tiefer Nacht aus einer Gastwirtschaft zum Grab des Verfassers des »Goldenen Topfes« gezogen. Kurz nach der Grablegung des Dichters im Juni 1822 erscheint der Schauspieler Ludwig Devrient nach einer Shakespeare - Aufführung aufgewühlt in dem Weinkeller am Gendarmenmarkt. »Gib mir eine Flasche vom besten Sekt für den Hoffmann!«, fährt er den erschreckten Kellner an. Der fügt die Rechnung Hoffmanns langer Schuldenliste von 1116 Reichstalern und 21 Groschen hinzu. Der Heldendarsteller klettert über die Friedhofsmauer am Halleschen Tor, gießt die Hälfte des Schampus über Hoffmanns Grab aus und tröstet sich mit dem Rest, im Sternenlicht trunken brütend über Sein und Nichtsein. •


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