Kreuzberger Chronik
September 2021 - Ausgabe 232

Geschäfte

Stadt, Land, Schaf


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von Edith Siepmann

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Gegenüber vom Heidelberger Krug steht seit einem Vierteljahrhundert an jedem Samstag der weiße Anhänger vom Hof Schafgarbe. Solange schon fährt Friedhelm Plaß seine Fleisch- und Milchprodukte aus der Provinz in die Hauptstadt. 111 Kilometer liegen zwischen seinem Familienhof im idyllischen Dörfchen Ogrosen am sorbischen Südrand des Spreewalds und dem Stammplatz im stilvollen Gründerzeitensemble der hektischen Großstadt. Dort verkauft er von 9 bis 15 Uhr aus der Luke heraus Lammkoteletts, Weißwürste und Bärlauch-Feta-Käse. Friedhelm gefällt der wöchentliche Wechsel zwischen Land und Stadt. Aus dem schmalen Ausschnitt seiner Verkaufsklappe hört er von seiner Stammkundschaft die Neuigkeiten über die Veränderungen im Kiez. »Wir wurden zusammen älter.«

Jeanette und Barbara sind Kunden der ersten Stunde. Hier kaufen sie »Fleisch und Wurst und Käse ...«, also alles, was in der Auslage liegt, die sich seit Jahrzehnten kaum verändert hat. Sie schätzen den Luxus, hochwertig erzeugte Lebensmittel vor der Haustür zu beziehen. Und sie waren schon beim Schäfer auf dem Hoffest: »Wir wissen, wie die beiden wirtschaften und wie die Tiere dort leben.«


Foto: Privat
Friedhelm und seine Frau Ulrike halten 80 ostfriesische Milchschafe und ebenso viele Duroc- und Mangalitza-Wollschweine auf 20 Hektar gepachtetem Land. Mehr als 10 Prozent Gewinn käme beim Verkauf auf dem Markt nicht heraus, sagt er. Davon können sie leben. »Jede Woche ein Schwein, drei Lämmer und in den Milchmonaten so 70 Liter am Tag für unsere Käserei, das reicht. Wir brauchen nicht viel Geld. Mit den Nachbarhöfen tauschen wir Fleisch und Käse gegen Gemüse, das Haus ist abbezahlt.« Futter wird gegen Mist getauscht, die Schweine fressen die Schafsmilchmolke, die Schafe düngen und erhalten die artenreiche Weidelandschaft. »Das Schlachten mache ich zur Stressvermeidung lieber selber. Kein Spaß, aber es gehört dazu.« Alles wird verwertet, Milch, Fleisch, Wolle, Molke, Mist. »Altschafe werden zu Salami.« Es ist die Landwirtschaft der Vergangenheit und der Zukunft: regional, bio, transparent, im Kreislauf. Allerdings mit einem Stück Fleisch auf der Speisekarte, auch in Zeiten veganer Ernährung, in der viele vor dem Kotelett die Nase rümpfen.

»Das Thema haben meine Kunden hinter sich. Wenig Fleisch, aber dafür gutes.« So wie es früher den Sonntagsbraten gab, der heute bei vielen zur täglich konsumierten, global produzierten Selbstverständlichkeit mutiert ist: Wurst von Tönnies, Steaks aus Argentinien, Lammfleisch aus Neuseeland.

Im 19. Jahrhundert, als die Märkte noch nicht global waren, waren die Berliner abhängig von den Ernten der Bauern aus dem Umland. Die kamen bis vom Oderbruch auf die Bauernmärkte der wachsenden Großstadt, auch auf den Marheinekeplatz. Die Region ernährte die Stadt, die Städter die Bauern. Dieser überschaubare Austausch wurde durch die Industrialisierung der Landwirtschaft zerstört. Die ab den 90ern entstehenden Biomärkte waren dazu eine Alternative. Ebenso wie der Ökomarkt am Chamissoplatz, und Friedhelm und Ulrike Plaß gehörten zu den ersten Direktvermarktern. Damals mussten sie Kredite bedienen, und im März stellte sich ihnen die Frage »Heu kaufen oder Heizöl? - Man muss speziell gestrickt sein, um so ein Leben zu führen«, sagt Friedhelm. Es gibt keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. »Abends die Schafe bei aufsteigendem Nebel von der Weide zu holen, das muss einen erfüllen.« Nur im Januar, wenn »die Schafe trocken stehen«, kann man mal Pause machen.

Friedhelm wollte schon seit der Kindheit in Ludwigshafen sein Leben draußen mit Tieren verbringen. Ulrike aus Münster, die er im Studium in Göttingen kennengelernt hatte, ebenfalls. Seit 30 Jahren leben die beiden Agraringenieure nun tief im Osten, zogen ihre beiden Kinder in Ogrosen auf. Dort hatten sie die Gelegenheit, mit wenig Geld einen eigenen Hof aufbauen. Kritisch beäugt von den Einheimischen, die erst vom Sie zum Du übergingen, als sie merkten, dass die Wessis arbeiteten. »Und dann lagen Brombeeren vor der Tür.« Inzwischen ist die Gemeinschaft der drei Höfe der größte Arbeitgeber im Dorf.

Dass die beiden auch Kreuzberg bis heute treu geblieben sind, liegt an den Stammkunden, die längst Freunde wurden. »Der Chamissomarkt ist eine Konstante, die unser Leben trägt. Manche Kunden haben uns sogar beim Hofausbau geholfen und uns Geld geliehen. Ihre Kinder machen bei uns Ferien, mit Tieren, Abenteuern und Bioessen.« In den Ferienwohnungen schnuppern Kreuzberger Landluft. Und wenn dann mal die Schafhaltung übergeben sein wird, haben Ulrike und Friedhelm schon eine Idee fürs Älterwerden. Das in Deutschland noch rare »Green Care« - altersgerechtes Wohnen, unterstützt von einem Pflegedienst - soll für ein paar pflegebedürftige Menschen zur letzten Heimat mit gemeinsamen Hofleben werden – statt Pflegeheim, gegen Vereinsamung. Das könnte dann der letzte Ogrosen-Chamissoplatz-Austausch werden und der Kreis schließt sich.

Aber vorher werden Ulrike und Friedhelm wieder vom sesshaften zum nomadischen Leben wechseln. So wie nach ihrem Studium, als sie in Neuseeland, Australien, Thailand Wwooving-Jobs und Permakultur-Praktika machten und ein Projekt mit Aborigines leiteten. Mit ihrem mit Pflanzenöl fahrenden Bus werden sie nach La Palma, Norwegen und wer weiß wohin reisen. Und wieder zurück ins heimatliche Ogrosen im Spreewald.

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