Kreuzberger Chronik
Oktober 2021 - Ausgabe 233

Hausverbot

Die Altherrenrunde


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von Horst Unsold

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Es gab Zeiten, da konnten die Kreuzberger zu jeder Tages- und Nachtzeit in jede beliebige Kneipe gehen, und immer trafen sie ihresgleichen, nie saßen sie alleine am Tisch oder am Tresen, nie war es langweilig. Und je später der Abend wurde, um so größer wurden die Runden, um so länger wurden die Tische.

Inzwischen sind viele dieser Kreuzberger schon gar nicht mehr da, andere sind in andere Stadtteile gezogen, wieder andere haben sogar aufgehört zu trinken. Auch von den legendären Kneipen zwischen Yorkstraße und Bergmannstraße sind nicht viele geblieben, und so rücken die alten Jahre in immer weitere und schon legendäre Ferne.

Manchmal aber führt der Zufall einige dieser alten Kreuzberger wieder zusammen. Dann kommt einer, der schon Jahre nicht mehr da war, plötzlich aus dem fernen Wilmersdorf, ein anderer aus dem Wedding, dann tauchen sie plötzlich und unerwartet wieder auf, zufällig alle an einem Tag, und sitzen wieder zusammen wie früher, um sich die alten Geschichten noch einmal zu erzählen. Und nach ein, zwei, drei Gläsern kommt es ihnen vor, als wären diese fröhlichen Tage erst gestern gewesen, als wäre das alles noch gar nicht in so weiter Ferne.

So ereignete es sich kürzlich auch wieder im Garten des Yorkschlösschens, es fand eine Runde alter Herren zusammen, die sich schon lange nicht gesehen hatte. Und während sie sich alle so erinnerten, während die Vergangenheit wieder ein Stück näher rückte, fühlten auch sie sich nicht mehr ganz so alt, wie sie waren, sondern fast so jung wie in ihren Erzählungen. »Schätzken!«, rief da einer der Gutgelaunten der Kellnerin zu, so wie er das immer gemacht hatte hier im Schlösschen, »Schätzken, mach uns doch bitte noch fünf Bier!«»Das Schätzken kannste stecken lassen!«, sagte die Kellnerin.

In der lauten, gutgelaunten Männerrunde wurde es plötzlich ganz still. Ein einziges Wort hatte gereicht, und alle waren sie wieder alte Männer, und die Zeiten, als man in den Biergärten noch zu jedem Mädchen Schätzken sagen konnte, ohne dass sich irgendjemand etwas dabei gedacht hätte, waren auch schon lange vorüber.

»Du, die bildet sich ein, du meinst das ernst mit dem Schätzken!«, sagte der eine. »Pass auf, sonst bekommst du noch Hausverbot!«, sagte der andere. Doch so richtig lachen wollte keiner mehr.

Da kam Olaf um die Ecke. Olaf war der Wirt, und auch nicht mehr der Jüngste. Er kannte alle an diesem Tisch, schon lange. Er setzte sich zu ihnen, winkte seiner Kellnerin zu und rief: »Schätzken, mach uns doch bitte mal sechs Bier auf meine Rechnung!«Am nächsten Abend, in der Kneipe auf der anderen Straßenseite, waren sie immer noch am lachen. •

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