Kreuzberger Chronik
November 2021 - Ausgabe 234

Strassen, Häuser, Höfe

Adalbertstraße 74


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von Werner von Westhafen

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Ganz am Anfang, als das Haus gebaut wurde, 1863, floss nicht weit entfernt von der Adalbertstraße noch der Luisenstädtische Kanal an den Uferpromenaden mit ihren großzügigen Wohnungen am Legiendamm und am Leuschnerdamm entlang. Das Haus in der Adalbertstraße 74 lag an keiner feinen Promenade, doch der Architekt C. Gans legte auch hier Wert auf eine schmuckvolle Fassade, und so gehört die Nummer 74 heute zum denkmalgeschützten »Bauensemble Oranienstraße«.

Hinter dem hübschen Vorderhaus entstand hingegen schon bald eine der schmucklosen Mietskasernen für die Einwanderer aus dem Osten, die gehört hatten, dass man in Berlin sein Glück machen könne. Doch wer in der Nummer 74 landete, hatte kein Glück. Die Immobilie gehörte nämlich seit 1872 dem Stadtverordneten und Medizinalrat Carl Albert Stryck, der nichts Eiligeres zu tun gehabt hatte, als bis in den »letzten Winkel« des Grundstückes hinein »Kleinwohnungen und Übernachtungsgelegenheiten« anzubauen.

Für Toiletten allerdings fehlte dem neuen Bauherren das Geld, und so standen für die Bewohner des Quergebäudes lediglich zwei Sitzgelegenheiten zur Verfügung. Nun waren allerdings die träge dahinfließenden und zum Himmel stinkenden Wasser des Luisenstädtischen Kanals bereits heftig in die Kritik geraten. Kollegen des Medizinalrats Stryck, unter ihnen Rudolf von Virchow, hatten bereits darauf hingewiesen, dass »am Elisabethufer seit dem vorigen Herbste kein Haus von Krankheitsfällen, besonders von typhösem Fieber, verschont geblieben sei«, dass der Kanal wesentlich zur Verbreitung der Cholera-Epidemie beigetragen habe, und dass sich aufgrund des schwachen Rinnsals und der »impotenten Strömung« Schlamminseln aus Exkrementen bildeten, die »in heißer Jahreszeit unaufhörlich ihre malariaartigen Dünstungen in die ohnehin schon verdorbene Atmosphäre senden.« Am schlimmsten sei es am Wassertor, wo sich laut 18. Medizinalbericht »todte Katzen, Hunde, Schweine, faules Obst, faules Gemüse und schlechte Kartoffeln an der Wasseroberfläche« ein Stelldichein gäben.

Medizinalrat Stryck sieht in alledem kein Problem. Als sich die Mieter der 74 wegen der Hygiene an die Behörden wenden und den Einbau weiterer Toiletten fordern, rechnet er der Polizeibehörde vor, dass zwei Toiletten ausreichend seien. Es sei zwar richtig, dass »die Miether von zehn Wohnungen auf eine Toilette angewiesen« seien, »aber diese Wohnungen bestehen nur aus 1 Stube und 1 einfenstrigen Küche. (…) Die Wohnungen sind selbstverständlich nur von einer Familie bewohnt, also von 2 erwachsenen Personen und etwaigen Kindern.« Die Männer, fährt er fort, seien tagsüber außer Haus bei der Arbeit »und nützen nur in den seltensten Fällen das Closet im Hause, da der Stuhlgang meist im Laufe des Tages erfolgt.« Die größeren Kinder wiederum seien in der Schule und die Kleinen benützten ja »gewöhnlich ein Töpfchen« für ihre Tröpfchen. »Bleiben also nur die Frauen übrig«, und so kämen auf »je ein Closet 10, (resp. 11) Personen«. Selbst bei doppelt so vielen Mietern dürften »kaum Unzuträglichkeiten entstehen, denn eine solche Sitzung nimmt im Durchschnitt incl. der Ordnung der Kleidung, was bei Frauen nicht nothwendig sein dürfte, 3-4, höchstens 5 Minuten in Anspruch«.

Wahrscheinlich glaubte der Stadtverordnete, die Beamten zum Lachen und auf seine Seite zu bringen, wenn er am Ende seiner Ausführungen zu dem Schluss kam, dass selbst bei ausgedehnten, zehnminütigen Sitzungen seiner Mieter »12 Tagesstunden allein schon Zeit genug bieten zur Benutzung der Closets für 72 Personen, wobei angenommen wird, dass jede Person einmal täglich Stuhlgang hat, was bekanntlich bei den Frauen nicht der Fall ist, von denen die meisten nur alle 2-3 Tage einmal Stuhlgang haben«.

Doch den Männern auf den Behörden muss das Lachen im Halse stecken geblieben sein. Sie ließen sich nicht blenden, legten eine respektable Akte an und ordneten am 1. August 1887 die Zwangsvollstreckung gegen den inzwischen zum Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung aufgestiegenen Medizinalrat an. Spürbar beleidigt gibt der Hausherr endlich nach: »Da die Closets bis auf die Holzgehäuse fertig sind, halte ich die Verfügung vom 1. August (…) für erledigt.« Ob er seine Mieter vor dem nahenden Winter und den Augen der Nachbarn mit einem Toilettenhäuschen schützte, oder ob er die Porzellanschüsseln im Freien stehen ließ, ist nicht überliefert.

Inzwischen ist die Geschichte vom Medizinalrat Stryck längst vergessen, doch die des Hauses geht weiter: Vierzig Jahre lang lag es nah an der Mauer und damit nah am Feindesland. Niemand interessierte sich für das alte Gebäude, und die Menschen, die in ihm wohnten, lebten in Ruhe und Frieden. Dann fiel die Mauer und die Geschichte endet so ähnlich, wie sie begann.

»Kündigungen und Zwangsräumungen können töten«, rufen Freunde und Nachbarn im Juni dieses Jahres auf einem Trauermarsch für Peter, einen langjährigen Mieter aus der Adalbertstraße 74. Er hat sich in seiner Wohnung das Leben genommen, denn das hundertjährige Mietshaus ist ein Eigentümerhaus geworden, und als die neue Eigentümerin dem Schlagzeuger in der kleinen Wohnung kündigte und ihm klar wurde, dass er sein Zuhause verlieren würde, machte er dem Trauerspiel ein Ende. Drei Jahre lang hat er vergeblich um sein Zuhause gekämpft. Am 31. Mai wurde er tot aufgefunden.

Im Internet findet man unter »Adalbertstraße 74« derzeit ein aktuelles Mietangebot: 5-Zimmerwohnung zu vermieten, 162 Quadratmeter, 2900 Euro. •

Literaturnachweis: Klaus Duntze: »Der Luisenstädtische Kanal«; Berlin Story Verlag; 2011,


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