Kreuzberger Chronik
Juni 2021 - Ausgabe 230

Kreuzberger
Hans Rombach

Ich wollte immer Geschichten erzählen.


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Es gibt einen Satz, der immer wieder dann fällt, wenn Hans Rombach etwas nicht erzählen will: »Aber das ist doch langweilig!« Dann allerdings erzählt er sie doch, diese langweilige Geschichte. Erzählt, wie er mit der Kamera am Hochhaus hängt und wie unten auf der Straße die Menschen so klein sind, als säße er im Flugzeug. Und wie er sich vorher nicht traute, in den Fahrstuhl zu steigen und deshalb alle Treppen zum Dach des Hochhauses zu Fuß nahm. Weil er einmal mit einem Fahrstuhl abgestürzt war. Oder wie er, bei den Dreharbeiten zu den Helicops, mit dem EC 135 über dem Flughafen von Tempelhof kreiste und wie sie einen Helikopter-Zweikampf über dem Reichstag drehten. Oder wie das Filmteam im Kosovo auf einem amerikanischen Stützpunkt vorfährt, und wie jeder der Insassen im Jeep plötzlich den roten Punkt eines Leuchtpunkt- visiers auf der Stirn hat. Fünf Minuten lang waren sie im Visier der Scharfschützen, eine falsche Bewegung hätte die Katastrophe auslösen können. Lauter langweilige Geschichten…

Abgesehen vielleicht von dem Flug mit der Norman Britain Islander, das war einen Moment lang wirklich ziemlich spannend. Es war erste British Airways Flug von Berlin nach Helgoland. Und Hans Rombach durfte vorne sitzen, neben dem Piloten, mit der Kamera in der Hand, weil die Berliner Abendschau über den Jungfernflug berichten wollte. Aber es war ein trüber, nebliger Tag, die Sichtweite auf dem winzigen Flughafen auf der Insel vor Helgoland war miserabel, die Journalisten saßen im Flughafencafé, tranken Bier und warteten auf die Starterlaubnis. »Und irgendwann lag die Sichtweite auf Helgoland dann über der kritischen Marke von einhundert Metern und wir starteten.« Aber als Helgoland in Sicht kommen sollte, sah man immer noch nichts, zudem war die Landebahn vom Regen verschlammt. Es rumpelte besorgniserregend, als der Flieger aufsetzte, Hans Rombach hatte Probleme, die Kamera in der Waage zu halten, und dann plötzlich der Schwenk zur Hand des Piloten, der die Notbremsung einleitet - dann rutscht das Flugzeug in die Düne, »die Nase vorne war weg, ein Triebwerk war abgefallen, und vorne im Cockpit hatten wir keine Ahnung, ob hinten am Flugzeug noch alles dran war. Aber als wir uns umdrehten, saßen alle noch da, kreidebleich und in der Schockstarre. Und dann sehe ich in dem kleinen Cockpitfenster, wie zwei Männer aus dem Tower klettern und fünf Minuten später ein Feuerwehrauto um die Ecke kommt. Die beiden Männer waren das komplette Flughafenpersonal von Helgoland.«

Hans Rombach erzählt diese Filmgeschichten nicht so gerne. Alle beim Film erzählen sie. Er möchte jetzt anderes erzählen. »Ich wollte schon immer richtige Geschichten erzählen.« Schon als kleiner Junge in Wyhlen, Mitte der Sechzigerjahre, in diesem Dorf an der Schweizer Grenze, wo er zu schreiben und zu fotografieren begann, mit der Praktika, die er sich zusammengespart hatte. »Ich fotografierte Wald, Wiese, Stadt...« Basel zum Beispiel. Da saß eine alte Frau auf der Bank, oder ein junges Paar küsste sich, während ein alter Mann hinter einem Baum stand und zusah. Das sind die Geschichten, die er erzählen möchte. Geschichten, für die man nur ein Bild braucht. Ein einziger Moment, kurz skizziert, aber darin steckt ein ganzes Leben.

An Filme hat der Vierzehnjährige nicht gedacht. Obwohl gleich neben seinem Zimmer das Dorfkino lag, und obwohl er jeden Abend die Stimmen der Schauspieler hörte, den Gesprächen folgte, in denen es um die großen Themen ging, Liebe, Tod, Verbrechen, »in diesen warmen Sommernächten mit offenen Fenstern, wenn der Wind die Vorhänge aufblähte…« Trotzdem kam es ihm nie in den Sinn, Filme zu drehen. Er wollte fotografieren. Und fliegen wollte er. Nach Paris, New York, Moskau. Mit der Caravelle, die fast senkrecht in den Himmel zu steigen schien, »das schönste Flugzeug der Welt«. Mit der Boeing 727 oder der Comet. Als er klein war, kannte er jedes Flugzeug am Himmel, niemals hätte sich Hans mit der Rolle des Kopiloten auf einem Flug nach Helgoland abspeisen lassen. Hans Rombach wollte auf keinen Kopilotensitz, er wollte Kapitän sein. Aber aus irgendeinem Grunde wurde kein Flugkapitän aus ihm.

Stattdessen kam er zum Film. Zeigte irgendwann irgendwo seine Schwarz-Weiß-Fotos und seine kleinen Texte einigen Leuten vom Südwestfunk. Zwei Jahre dauerte das Praktikum, und er war überall, in allen Abteilungen. Zum Abschluss der Ausbildung musste er einen 30 Meter langen Streifen abgeben, der beweisen sollte, dass er es verstand, mit der Scharfeinstellung und dem Blendenring umzugehen. Hans Rombach lieferte gleich einen Kurzfilm ab von einem Priester und einem Selbstmörder. Man war ein bisschen irritiert von dem zweiminütigen Kunstwerk, aber dann lief der kleine Streifen im Kommunalen Kino in Frankfurt sogar als Vorfilm. »Ich wollte eben schon immer Geschichten erzählen.«

Dennoch landete der Geschichtenerzähler nicht etwa in Hollywood, wo man die phantastischsten Geschichten hätte verfilmen können, sondern beim Sender Freies Berlin. Mit einer Wohnung in Neukölln und Toilette im Treppenhaus und alten Frauen, die davon erzählten, dass hier einmal ein Puff neben dem anderen war. Eigentlich wollte er gleich wieder zurück zum Südwestfunk. Hans Rombach ist einer der wenigen Kreuzberger, denen es in dieser zerbombten Stadt erst einmal gar nicht gefiel.

Aber dann erhielt er diese Stelle als Kamera-Assistent. Lernte das Handwerk. Filmte für die Abendschau, die Tagesschau, drehte Reportagen und Dokumentationen. Lernte Stadt und Leute kennen, die Berlinale, die Berühmtheiten, die Politiker. Auch wenn das wieder nur langweilige Geschichten waren - wie ihm Melina Mercouri beim Lindenstraßenwirt fast die Augen auskratzte, oder wie sich 1982 der Berlinale-Vorhang öffnet und James Steward, Hitchcock-Star und Oscarpreisträger, tatsächlich vor versammeltem Publikum diesen kleinen Satz sagte, den sie ihm vorher zugesteckt hatten: »I want to greet my old friend Helmut«. Helmut war der Mann hinter dem Filmprojektor und ein echter James Steward-Fan.

Es waren keine schlechten Jahre, die Siebziger-und Achtzigerjahre mit ihrer Verachtung aller Etikette, in denen die Stars jeden Reporter zuerst in die Küche zum Kühlschrank führten und sagten: »Mach Dir mal ein Bier auf!« - Heute kann ein Journalist froh sein, wenn er drei Minuten bekommt und fünf Fragen stellen darf.

»Ich war ewig Kameramann beim Sender Freies Berlin, und ich hätte nur noch ein bisschen warten müssen, ich hatte den goldenen Löffel schon an den Lippen und so gut wie ausgesorgt. Es gab da ein Regal bis unter die Decke voll mit Formularen nur für die Sonderzahlungen! Da konnte man schon eine Höhenzulage beantragen, wenn man auf einen Turm steigen musste.« Aber irgendwann war ihm das alles wieder zu langweilig. Irgendwann kündigte er. Und drehte Filme. Dokumentarfilme. Da war er ein gutes Stück näher dran an diesen Geschichten, die er eigentlich erzählen wollte. Kurze Geschichten, Momentaufnahmen, Bilder so wie das von der alten Frau am Chamissoplatz in Berlin, die noch in den Achtzigerjahren Holz sammeln ging, als wäre noch immer Krieg und Winter. Dokumentarfilme. Spielfilme waren ihm zu langweilig. Zu kompliziert. Diese ewigen Vorbereitungszeiten, und dann diese gekünstelten Dialoge, diese Schauspieler und diese unmöglichen Drehorte. Und alles steht vorher fest! Selbst das Wetter. Beim Dokumentarfilm gibt es kein Drehbuch, in dem steht, dass die Sonne scheint. »Wenn es regnet, dann regnet es eben!«

Für die Geschichten, die Hans Rombach erzählen möchte, sind Dokumentarfilme das richtige Mittel. »Mir gefällt auch die Fiktion, aber sie muss klein und überschaubar bleiben.« Nicht ständig diese Vogelperspektive, die alles aus der Distanz erfasst. »Bei der Doku ist man näher dran. Man trifft sich erst mal ohne Kamera und lernt sich kennen. Man erzählt. Man verbringt Zeit miteinander, so viel, bis man zusammenwächst. Bei den Spielfilmen gibt es am Schluss eine Fete, und dann geht alles wieder auseinander.«

Sieben Jahre lang hat er mit Andres Veiel junge Menschen begleitet, die Schauspieler werden wollten. Sie begleiteten »Die Spielwütigen« - so der Titel des Filmes - in die Ernst Busch Schule, besuchten sie zuhause, bei den Dreharbeiten, im Alltag. Sie nahmen an ihrem Leben teil, sieben Jahre lang. Schon 1994 erhielt er mit Veiel für Balagan den Friedenspreis, den Bundesfilmpreis in Silber und den Kamerapreis. Für Die Spielwütigen erhielten sie den bayerischen Filmpreis.

Für die Geschichte mit der Polizistin gab es keinen Preis. Drei Monate begleitete er sie auf der Streife, saß stundenlang mit dem Beamten im Auto. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen dem Mann hinter der Kamera und der Frau vor der Kamera. Er konnte am Ende dieses Filmes verstehen, weshalb diese Frau ihre Uniform für immer an den Nagel hängte. Auch die Zuschauer konnten es verstehen, nach dieser Geschichte: Es war ein Tag wie jeder andere, langweilig, nichts passierte. Dann plötzlich ein Bankraub, ein Fluchtwagen, ein Nummernschild. Und dann entdeckt diese Streife tatsächlich dieses Nummernschild am Straßenrand. Sie fahren weiter, rufen Verstärkung, »das ist im wahren Leben dann eben doch ein bisschen anders als im Tatort.« Parken irgendwo ein paar Meter weiter, aber da fährt er los. Sie hinterher. Und dann »wirklich eine Verfolgungsjagd wie im Film, der Bankräuber schüttelt«, die Streife verfolgt ihn, bis er plötzlich stoppt. Es kommt zum Schusswechsel, und dann ist er weg. Nicht zu mehr finden. Spurlos verschwunden. Am nächsten Tag entdeckt ihn eine alte Frau in einem Gebüsch, sitzend, die Pistole in der Hand. Tot. Es war die Kugel der Polizistin gewesen. Am Ende des Filmes gibt sie ihre Waffe ab. Für immer.

Eigentlich will er diese Geschichten nicht alle noch einmal erzählen. Aber dann erzählt er sie doch immer wieder. Weil er weiß, dass sie wichtig sind. Dass sie erzählt werden müssen.

Und doch würde er lieber von der alten Frau auf der Parkbank erzählen, die er schon als kleiner Junge fotografiert hat. Oder von der Kuppel des Bahnhofs in Basel. Oder von der Kreuzbergerin, die auch dreißig Jahre nach dem Krieg noch Holz sammelt. Er hätte gerne mehr über sie erfahren, aber er war »zu schüchtern«. Zu respektvoll. Viele Kameraleute sind aufdringlich, respektlos. Hans Rombach ist anders. Er bewahrt Abstand. Auch zur Holzsammlerin. Deshalb gibt es auch kein Bild von ihr. Nur noch das Bild im Gedächtnis. Die Erinnerung. Vielleicht ließe sich ein Spielfilm aus diesen Erinnerungen machen. Eine Fiktion.

Aber das ist natürlich langwierig! Viel zu umständlich! Diese Schauspieler immer, diese Drehorte überall auf der Welt verstreut, und dann das Wetter, das nie stimmt... Also hat Hans Rombach die Kamera, die ihn so viele Jahre begleitet hat, endgültig beiseite gelegt und gegen einen kleinen Schreibblock eingetauscht. Und wieder zu schreiben begonnen. So wie am Anfang. »Irgendwie schließt sich jetzt der Kreis«, sagt er und lächelt. Vielleicht wird die alte Holzsammlerin doch noch einmal auftauchen - in seinem kleinen Notizblock.•


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