Kreuzberger Chronik
Februar 2021 - Ausgabe 226

Strassen, Häuser, Höfe

Die Moritzstraße


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von Werner von Westhafen

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Es gibt einen Moritzplatz und eine Moritzstraße in Kreuzberg. Der Platz auf der Oranienstraße - benannt nach Moritz von Oranien - ist bekannt, die Moritzstraße kaum. Der Krieg hat auch nichts von ihr stehen gelassen außer dem Namen, rechts und links der kurzen Geraden stehen nur schmucklose Nachkriegsbauten aus den Sechzigerjahren. Auch der Namensgeber der bescheidenen Straße ist meist unbekannt. Dabei ist das Leben dieses Mannes so aufregend wie seine Schriften, schon Heinrich Heine, dem ganz in der Nähe eine Straße gewidmet wurde, schrieb: Moritz sei ihm »der liebste«. Womit er meinte: Der Größte.

Geboren wurde Carl Phillipp Moritz am 15. September 1756, gestorben ist er im Alter von 36 Jahren an einer Lungenkrankheit. Erst spät, dann allerdings in stürmischer Eile, hatte der Fünfunddreißigjährige die fünfzehnjährige Tochter eines Buchhändlers geheiratet. Ebenso überhastet und nur drei Monate nach der Hochzeit wurde die Ehe wieder geschieden, weil ein Ex-Liebhaber die Gattin entführt hatte. Vier Monate später, im April, heiratete Moritz seine Christiane Friederike zum zweiten Mal, doch lange konnte er sich der ehelichen Freuden auch diesmal nicht erfreuen: Schon im Juni klopfte Gevatter Tod bei ihm an. Kurz darauf folgte ihm die junge Christiane ins Jenseits.

Sein Lebe war ein Abenteuer. Immer wieder sprengte seine Leidenschaft das Korsett der Sitten und Konventionen. Nicht nur im Privaten, auch als Schriftsteller und Gelehrter war er seiner Zeit um Jahrhunderte voraus. Sein bis heute beinahe unbekannter Roman über Anton Reiser war wegweisend für die deutsche Literatur, Benedikt Erenz schreibt 250 Jahre nach der Erstveröffentlichung in der ZEIT, neben diesem Buch wirke Goethes Wilhelm Meister »plötzlich tönern und just in seiner angestrengten Zeitlosigkeit seltsam altbacken. Anton Reiser dagegen wird zum Zeitgenossen.«

Die Sprache des Schriftstellers Moritz ist modern. Sie ist weniger überladen als die der Zeitgenossen und hält sich auch in lyrischen und romantischen Phasen nicht mit der Suche nach Adjektiven auf. Anders als die Kollegen Schiller und Goethe scheint es diesen Mann zu drängen, er möchte »Fakta und kein moralisches Geschwätz!«; er möchte »aus dem wirklichen Leben« erzählen und der Wahrheit nahe kommen. Auch der über sich selbst. Sein Anton Reiser ist ein Pionier, er ist einer der ersten autobiografischen Romane in deutscher Sprache. Die Geschichte seines Helden beginnt wie die eigene: Anton wächst in einem streng religiösen Elternhaus auf, wo die Mutter »die Bibel zu ganzen Stunden tatsächlich mit innigem Vergnügen« las. Der Vater wiederum gehörte einer strengen Sekte an. »So wurde der häusliche Friede jahrelang durch diese unglücklichen Bücher gestört« und »die ersten Worte, die Antons Ohr vernahm, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes.« Als der Vater in den Siebenjährigen Krieg und Anton mit der Mutter aufs Land zieht, genießt er die Natur, aber als der Vater heimkehrt, ist es mit dem Frieden vorbei. Die »lange Trennung verursachte ein kurzes Blendwerk elterlicher Eintracht, aber bald folgte auf die betrügerische Stille ein desto schrecklicherer Sturm.«

Moritz formuliert nicht ohne Humor und nicht ohne Boshaftigkeit, und er spart nicht mit fundamentaler Kritik. Der Romanheld kommt in die Lehre zu einem Hutmacher und religiösen Fanatiker, vor dem er flüchten muss. Er möchte zum Theater, aber er scheitert auch dort, und hätte nicht der Pfarrer bei der Konfirmation erkannt, dass in diesem Anton einige Talente schlummern, dann wäre der inkompatible Junge vielleicht in der Gosse gelandet. Ebenso wie Moritz. Der aber erhält ein Stipendium, besucht das Gymnasium, wird später selbst Lehrer am Grauen Kloster zu Berlin. Und er beginnt zu schreiben, macht in Rom Goethes Bekanntschaft, der ihn »wie einen jüngeren Bruder« schätzt und vermerkt, Moritz sei »von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin«.

1789 erhält Carl Phillipp Moritz eine Professur an der Königlichen Akademie der Künste, in seinem Hörsaal sitzen Studenten wie Alexander von Humboldt, Tieck und Scharnhorst. Zwei Jahre später wird er in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen und zum Preußischen Hofrat ernannt. Er trifft in Hamburg den Dichter Johann Friedrich Klopstock und lernt Johann Gottfried Herder kennen. Moritz ist es auch, dem Jean Paul sein Manuskript der Unsichtbaren Loge schickt, woraufhin Moritz für die sofortige Veröffentlichung sorgt - und damit auch für den bis heute anhaltenden Ruhm Jean Pauls.

Er selbst aber wurde von den Literaturwissenschaftlern erst in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts entdeckt. Dabei ist die Liste seiner Arbeiten lang. Carl Phillipp Moritz veröffentlichte seine Tagebücher über die Reisen eines Deutschen in England und die Reisen eines Deutschen in Italien - lange vor Goethes Italienreise; Er schrieb einen weiteren Roman, verfasste theoretische Schriften über das »Ideal einer vollkommenen Zeitung« oder den »Versuch einer praktischen Kinderlogik«.

Und dann ist da noch das Drama »Blunt und der Gast«, sein Erstlingswerk. 206 Jahre dauerte es, bis das Stück in Heidelberg von Studenten uraufgeführt wurde. 1995 sollte es mit Bernhard Minetti auf die Berliner Schaubühne kommen, die Programmhefte waren bereits gedruckt, als es abgesagt wurde. Das sei, wie Erenz in der ZEIT schreibt, typisch für das Leben und Wirken dieses Mannes, der stets auch »eine heimliche Lust an der Katastrophe« gehabt habe. •

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