Kreuzberger Chronik
Dez. 2021/ 2022 - Ausgabe 235

Hausverbot

Die Schnittchenplatte


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von Michael Unfried

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Es waren die Siebzigerjahre, Schulz, einer aus der langen Reihe Nulpenwirte, seufzt: »Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie voll die Kneipen damals waren, und wie viel die Leute tranken, in einer Nacht zwei, dreihundert Liter Bier. Das muss man sich mal ausrechnen, und was das für´n Geld war!« Es waren goldene, aber auch harte Zeiten.

Darum zog sich Schulz auch eines Tages aus dem Geschäft zurück und lag einige Monate lang irgendwo am Mittelmeer am Sand. Als er heimkehrte, hatte Michael die Kneipe übernommen. »Wie der an die Nulpe rankam, weiß ich nicht. Den kannte eigentlich keiner.« Aber Micha schien Schulz zu kennen. Jedenfalls hatte er lautstark verkündet: »Wenn der hier auftaucht, kriegt er erst mal eins auf die Glocke.«

Der Heimkehrer hatte jedoch wenig Lust auf Prügeleien und blieb der Nulpe fern, auch wenn er neugierig geworden war: »Ich hatte keine Ahnung, warum der mich verdreschen wollte. Wir hatten ja nie miteinander zu tun gehabt, ich kannte den ja gar nicht.«

Eines Abends saß er mit Mathias in einer Kneipe um die Ecke. Sie hatten schon ordentlich einen gebechert, als Schulz sagte: »Jetzt will ich doch mal wissen, was Sache ist.« Sie torkelten zur Nulpe rüber, arbeiteten sich zum Tresen vor, und Schulz sah Micha tief in die Augen: »Hallo Micha! Mein Name ist Schulz. Wo ist das Problem?«

Micha verlor für einen Moment die Contenance, fasste sich aber schnell wieder und lächelte: »Bevor wir darüber reden, mach ich uns erst mal ein paar Schnittchen.« Schulz, der unterm Tresen schon die Faust geballt hatte, sah, wie sich sein Gegner auf dem Absatz umdrehte, in der Küche verschwand und zehn Minuten später mit einer Platte voller Schnittchen wiederkam.

»Wir waren natürlich hungrig und haben alles brav aufgegessen, da war kein Krümel mehr übrig.« Dann kam Micha wieder und sagte: »Und jetzt, weil ihr so schön aufgegessen habt, gibt’s noch einen Nachtisch. Da müsst ihr aber mit ins Hinterzimmer kommen.«

Schulz war auf alles gefasst. Drinnen gedämpftes Licht, vier Stühle um ein Tischchen, auf dem ein Taschenspiegel lag. Micha strich eine weiße Linie darüber und Mathias zog sich sofort eine Nase voll rein von dem Zeug. Schulz traute dem Braten nicht, »aber weil die beiden Dussels so drängelten, hab ich dann auch ´ne Nase genommen. Und dann weiß ich eigentlich nichts mehr. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und war grün und blau, als hätte mich einer ordentlich vermöbelt. Ich bin nie dahinter gekommen, was an diesem Abend eigentlich noch passiert ist, oder warum dieser Micha mir unbedingt eins auf die Zwölfe geben wollte. Als ich ein paar Tage später nachfragen wollte, war er weg. Bei Nacht und Nebel so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. - Ach, waren das Zeiten!« •


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