Kreuzberger Chronik
Oktober 2020 - Ausgabe 223

Strassen, Häuser, Höfe

Die Wilhelmstraße 75


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von Sybille Matuschek

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Im 21. Jahrhundert hätte Heinrich Feldt wahrscheinlich nicht den weiten Weg von Hamburg nach Berlin auf sich genommen, nur um in der südlichen Luisenstadt seine Idee patentieren zu lassen. Im 21. Jahrhundert hätte er mit dem heftigen Widerspruch der Kreuzberger rechnen müssen, die sich mit Transparenten vor der Wilhelmstraße 75 postiert und lautstark für mehr Tierschutz und gegen die Ausbeutung des Hundes protestiert hätten.

1888 allerdings hatte die Idee Feldts durchaus noch eine Chance und rechtfertigte zumindest für kurze Zeit das Träumen vom unbeschwerten Dasein eines finanziell abgesicherten Großindustriellen. Der ansteckende Optimismus der Gründerzeit - unterstützt von Legenden wie der über die Erfindung des Reißverschlusses 1851 durch den Amerikaner Elias Howe, der eigentlich eine Nähmaschine hatte konstruieren wollen, oder von der Geschichte über die Erfindung des Bäckermeistersohnes Philipp Reis aus Gelnhausen, der schon als kleines Kind beide Eltern verlor und bei der Großmutter aufwuchs, um 1876 als Erfinder des Telefons in die Geschichtsbücher einzugehen - spornte die Geistreichen zu neuen Ideen an. Und weil jeder Erfinder den Diebstahl seines geistigen Eigentums befürchten muss, füllten sich nicht nur die geräumigen Archive mit staatlich geprüften Patenten, sondern auch die Kassen des Berliner Patentamtes.

Was zunächst mit wenigen Mitarbeitern - unter ihnen Werner von Siemens und Albert Einstein - in der Wilhelmstraße als Kaiserliches Patentamt begann, manifestierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in einer regelrechten Festung. 25 Jahre nach der Gründung war die Zahl der Mitarbeiter von 30 auf 565 angewachsen, während sich die Einnahmen auf beachtliche 5,25 Millionen Reichsmark beliefen. (Vgl. Jürgen Jakobi, Kreuzberger Chronik Nr. 30) Die Flut der Erfindungen nahm keine Ende, weshalb das Amt 1905 in ein imposantes, eigens errichtetes Gebäude auf dem Gelände der ehemaligen Garde-Kürassier-Kaserne in der Gitschiner Straße umzog.

Damit es nun Heinrich Feldt nicht erging wie dem späteren Erfinder des Scheibenwischers, der außer einer kleinen Gehaltserhöhung des Arbeitgebers als Dank für seine bahnbrechende Erfindung lediglich eine kleine Vitrine in einem Wiener Museum erhielt, schlug er am 28. Juli 1888 den Weg zur Wilhelmstraße 75 ein und hielt, nach Entrichtung einer nicht unerheblichen Gebühr, das Patent mit der Nummer 46050 in den Händen.

Natürlich geriet die Akte Nr. 46050 schnell wieder in Vergessenheit. Feldts geniale Idee »einer Nähmaschine mittels eines Hunderades« zur Schonung der Knie- und Fußgelenke der Näherinnen war schon wenig später durch den Einzug der Elektrizität in Fabrikhallen und Haushalte ziemlich sinnlos geworden.

Wie Heinrich Feldt überhaupt auf die Idee kam, die Nadel einer Nähmaschine durch einen im Laufrad rennenden Hund in Bewegung zu setzen, ist nicht überliefert. Überliefert werden stets nur die Geschichten erfolgreicher Erfinder und Erfindungen. Aber die Vermutung liegt nahe, dass sich Feldt den Kopf nicht seiner Frau zuliebe zerbrach, die sich beim Nähen der Kinderkleider mit der alten Singer Krampfadern holte. Wahrscheinlicher ist es, dass der Mann in der Textilbranche tätig war, womöglich mehrere Näherinnen beschäftigt hatte, die bis in die Nacht hinein die Fußpedale ihrer Nähmaschinen auf- und abbewegten, bis ein Krampf in der Wade den Produktionsprozess unterbrach - dass also auch die Erfindung der vom Hund betriebenen Nähmaschine weniger dem Wohle der Menschheit als dem Geschäft ihres Erfinders dienen sollte.

Die Idee, den Bewegungsdrang des Hundes in verwertbare Energie und bare Münze umzuwandeln, überzeugte die Prüfer in der Wilhelmstraße. Schließlich drehten schon Esel und Ochsen einst hölzerne Zahnräder, förderten Wasser oder setzen Mahlsteine in Bewegung. Die komplizierte Zeichnung von Feldts »Einrichtung zum Betriebe einer Nähmaschine mittelst eines Hunderades« lässt darauf schließen, dass er viel Zeit investierte, die Anzahl der Fehlschläge, die er bei der Entwicklung seiner Maschine erlitten haben muss, lässt sich nur erahnen.

Das größte Problem bei der Verwirklichung der Idee dürfte das abrupte Nachlassen des Widerstandes gewesen sein, der eintrat, sobald die Näherin die Verbindung des Laufrades mit dem Rad der Nähmaschine kappte. Damit die Nähnadel fehlerfrei surrte und auch »bei den eintretenden Pausen im Nähen, während man entweder das Zeug umlegen oder mittels der gewöhnlichen Tretvorrichtung y die Maschine betreiben will, infolge des plötzlich verminderten Widerstandes die Trommel t nicht zu schnell rotiere und dadurch der Hund zum Fallen komme, ist eine Bremsvorrichtung angeordnet, die beim Ausrücken der Welle b durch Abheben des Fußes vor dem Brett k in Wirksamkeit tritt«. Da der animalische Nähmaschinenantrieb den Einsatz verschieden großer und verschieden kräftiger Hunde ermöglichen sollte, konnte die Bremsvorrichtung »durch ein an den Hebel gehängtes Gewicht q, Fig. 1, reguliert werden.«

Der Erfinder des Hunderades hatte sich also einige Gedanken gemacht, doch in Serienproduktion ging sein Rad nie, und als zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Mitarbeiter des Patentamtes die Akte mit der Nummer 46050 aus den Regalen zieht und sie einer genaueren Begutachtung unterzieht, notiert er: »Der Hund ist bekanntlich ein treuer Helfer des Menschen. Ob er sich aber für den vor mehr als 100 Jahren zum Patent angemeldeten Zweck eignet, ist fraglich.« •

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