Kreuzberger Chronik
November 2020 - Ausgabe 224

Kanzlei Hilfreich

Hilfreich und die Weisheit des Alters


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von Kajo Frings

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Hans Meißner hat zwei Töchter. Von zwei Frauen. Dann verliebte er sich in Karla, eine ehemalige Geigenschülerin, zwanzig Jahre jünger als der Senior. Eines Tages zog sie bei ihm ein, in die hübsche Kreuzberger Eigentumswohnung.

Eines Abends wiederum saßen die beiden Töchter mit Jens Hilfreich im Kleinen Weinstock und befürchteten Schreckliches: »Wenn Papa diese Karla heiratet und ihr die Eigentumswohnung schenkt, dann bleibt uns ja nur ein Teil!« - »Für jede von Euch ein Achtel!« , konkretisierte der Anwalt. »Nur ein Achtel?« - »Im Moment seid Ihr Alleinerben. Wenn er Karla heiratet, ist sie die gesetzliche Erbin und bekommt die Hälfte, Ihr jeweils ein Viertel. Wenn er ihr aber im Testament alles überschreibt, steht Euch nur noch der so genannte Pflichtteil, also je ein Achtel zu.« -

»Das ist ungerecht!« - »Wieso? Corinna hatte 20 Jahre lang ganz für sich ihren Vater. Karin hatte 20 Jahre lang ihren Vater. Und jetzt kommt wieder ne junge Frau und will noch 20 Jahre was von Eurem Vater.« - »Ja, aber die Eigentumswohnung konnte er sich nur leisten, weil unsere Mütter ihm den Rücken frei gehalten haben.« - »Dafür gab‘s aber auch bei jeder Scheidung einen Zugewinnausgleich.«

»Könntest Du denn nicht mal mit unserem Vater reden?« - »Wo hält er sich denn abends auf, wenn Karla nicht da ist?« - »Vielleicht auf dem Boule-Platz am Paul-Lincke-Ufer.« - »Gebt mir mal ein Foto von ihm...« Und dann verbrachte Jens Hilfreich einige Sommerabende am Landwehrkanal, las demonstrativ seine Fachzeitschriften für Erb- und Familienrecht, bis ihn eines Tages Hans Meißner ansprach. »Sagen Sie, sind Sie Anwalt?« Jens nickte. »Erb- und Familienrecht?« Jens nickte. »Machen Sie auch Erstberatungen für 190 Euro?« - »Wenn Sie mich zusätzlich auf ein Abendessen in‘s Tulus Lotrek einladen, ja.«

Es wurde ein geselliger Abend. Hans Meißner erzählte ihm seine Probleme mit Karin, Corinna und Karla. »Schwierig«, sagte Jens. »Wenn ich die Anwältin von Karla wäre - junge Frauen mit Aussichten auf ältere Männer nehmen sich immer Anwältinnen - also dann würde ich ihr raten, zu heiraten, allerdings unter der Bedingung, dass Sie Karla die Wohnung schenken und im Gegenzug ein lebenslanges Wohnrecht erhalten. Oder ich würde ihr zu einem Erbvertrag raten, der festlegt, dass sie bei Ihrem Tod die Wohnung erhält. Das Problem aber ist...« - Jens legte eine kleine Kunstpause ein, »dass für die relativ junge neue Frau ein wirtschaftliches Interesse am Frühableben ihres Mannes besteht und Sie auf ewig unglückliche Töchter hätten. Wenn Sie aber die Wohnung zu Lebzeiten Ihren Töchtern schenken und sich ein lebenslanges Wohnrecht vorbehalten, dann sind Ihre Töchter glücklich und Ihre neue Ehefrau wird dafür sorgen, dass Sie möglichst lange leben. Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen.« •


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