Kreuzberger Chronik
März 2020 - Ausgabe 217

Herr D.

Der Herr D. und der Kinderwagen


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. war in einem Alter, in dem er, in Ermangelung attraktiver Gesprächspartner, mitunter Selbstgespräche führte. Hatten sich die Reihen seiner Freunde anfangs noch kaum sichtbar wie ein erstes Ausweiten der Geheimratsecken gelichtet, so hatten sie nun bereits schmerzliche Lücken aufzuweisen. Seine geliebten Gesprächspartner waren morgens ganz einfach nicht mehr aufgewacht, ihnen war auf der Straße plötzlich schwindelig geworden, oder sie hatten ihre Leber oder ihre Lunge überstrapaziert. Und jedes Mal, wenn der Herr D. an einem dieser Gräber stand und eine Blume in das feuchte Erdloch warf, dachte er sich, dass auch sein Leben vermutlich nicht unendlich wäre.

Um also seine limitierte Zeit auf Erden nicht noch unnötig zu verkürzen, vermied der Herr D. an einem verregneten Wintertag auf dem Heimweg vom Supermarkt das glatte Kopfsteinpflaster und benutzte verbotener Weise mit dem Rad den Fußweg. Er radelte gerade den Marheinekeplatz entlang, als er sah, dass sich ein Vater mit Kinderwagen im rechten Winkel auf ihn zubewegte. Da Kind und Vater noch ein Stück entfernt waren, errechnete er, dass ein Zusammenstoß ausgeschlossen war, und verlangsamte sein Tempo nicht.

Was er allerdings bei seinen Berechnungen vernachlässigt hatte, war die feindliche Gesinnung, die Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern neuerdings gleichermaßen von Autofahrern, Radfahrern und Fußgängern entgegengebracht wurde. Als also der liebevolle Vater den Herrn D. auf seinem Fahrrad sah, erhöhte er die Geschwindigkeit und ging mit seinem Kinderwagen auf Kollisionskurs.

Der Herr D. mit den vollen Einkaufstaschen am Lenker zog eine leichte Beschleunigung dem Bremsen auf glattem Gehweg vor, ließ dabei aber den feindlichen Kinderwagen nicht aus den Augen, da der Fahrer des Kinderwagens womöglich die Geschwindigkeit abermals erhöhen würde. Doch während der Herr D. nach links schaute, näherten sich von rechts zwei Fußgängerinnen. Der Herr D. musste bremsen und wäre fast gestürzt, indes die Frauen verständnislos den Kopf schüttelten und der junge Bartträger triumphierend ausrief:

»Der Radweg ist da drüben!«

Während der Herr D. mit gesenktem Kopf und Flüche vor sich hinmurmelnd Rad und Einkauf nachhause schob, sah er sich vor dem Richter stehen. Und während er vor der Tür nach seinem Schlüssel suchte, hörte er sich zum Richter sagen: »Hochwürden, es war doch dieser Kinderwagenfahrer, der die gefährliche Situation vorsätzlich heraufbeschworen hat. Man kann doch auch an der Kreuzung nicht auf Grün bestehen, nur weil der andere bei Rot fährt!«

»Welcher Familienvater?«, fragte die Nachbarin, die dem Herrn D. freundlicherweise die Tür aufhielt. •

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