Kreuzberger Chronik
Juni 2020 - Ausgabe 220

Geschäfte

Weilensee


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von Edith Siepmann

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Wir leben in einer Bilderwelt, in einer Flut von Bildern von Kindheit an. Sie tauchen in unseren Träumen auf, bestimmen unsere Erinnerungen, prägen unser Weltbild mehr als alle Worte. Bilder sind magisch und begleiten jedes Leben. Und schmücken fast jede Wohnung: Ikonen ähnlich hängen sie meist eingerahmt an den Wänden, ob als Fotos, Drucke oder Gemälde. Rahmen und Passepartout sind es, die das einzelne Bild aus der Masse an Abbildungen hervor heben, ihm Raum und Ruhe geben. »Der Rahmen gibt dem Bild wie ein Gewand Charakter.«, sagt Sascha Fricke. Der Rahmen ist die Grenze zwischen Innen und Außen und macht es so zu einer eigenen kleinen Welt.

Seit vier Jahren berät Sascha Fricke seine Kunden am großen Grafiktisch bei der Auswahl der Umrandung für ihren Lieblingswandschmuck. »Auf dem Tisch schaffe ich eine Bühne für die Bilder. Ich bin so eine Art Paarberater zwischen Bild und Betrachter.« Im Zickzack hängen Hunderte Winkelmuster von Rahmen wie Fischgräten an der Wand. Von Barock bis Bauhaus, von ozeanblau bis biedermeierbraun, Passepartouts in allen Farben und Stärken. Musik von Radio Paradise schwingt durch den Raum. Gemeinsam mit Wilfried, der seit fast 40 Jahren für den Ararat-Laden auf der südlichen Seite der Bergmannstraße Rahmen baut, fertigt Sascha - manchmal nach einem stundenlangem Kundengespräch- die maßgerechten Rechtecke in der Werkstatt im Hinterzimmer an. »Man muss sich Zeit nehmen, in Ruhe überlegen. Dann wird es was. Und dann ist das auch ein tolles Gefühl, wenn die Leute beim Auspacken sagen: Oh Wow, vielen Dank

Sascha Fricke fühlt sich wohl in diesem Laden, der jetzt seiner ist und der jetzt nicht mehr Ararat heißt. »Das hier ist Heimat für mich.« Deshalb dachte der Grafiker mit dem Kunstgeschichte-Studium in Weißensee schon nach seinen ersten Arbeitstagen bei Ararat an eine Übernahme des Rahmenladens. Und jetzt, im März, war es dann soweit. »Das war natürlich ein super Timing!«, seufzt der neue Inhaber. »Endlich hatte ich das Geld zusammen und unterschrieben, da musste ich den Laden wegen Corona schließen. Aber es wird schon klappen.« Auch wenn »die Miete in der Bergmannstraße für eine Werkstatt zu teuer ist.«

Auf jeden Fall heißt dieser Teil des ehemaligen kleinen Ararat-Imperiums jetzt Weilensee. Aber »Weilensee, das gibt es eigentlich nicht. Der Ort mit diesem Namen erschien mir als Jugendlichem im Traum.« Und jetzt liegt dieser Traum-Ort also zwischen Weissensee und Wannsee in Kreuzberg. Ein besonderer Platz für Gespräche und Schönheit soll es sein, ein ruhiger Ort, an dem man gerne ist, und wo es um ein wenig mehr gehen soll als den schnöden Alltag.

Sascha Fricke liebt den Kontakt zu den Menschen und ist froh, dem puren Computerdasein des Grafikers entkommen zu sein. Er mag die Vielfalt der Bilder und Menschen, die Geschichten, die sich mit den Bildern verbinden. Es kommen Kinder mit selbst gemalten Bildern und Kunstsammler mit wertvollen Originalen. Fast jeder Mensch, jede Familie hat ihr ikonisches Bild, oft über Generationen weiter gereicht und wert geschätzt. Bei Saschas Familie ist es das vom Urgroßvater heimlich aufgenommene Foto von Ernst Thälmann im Gefängnis von Moabit. Seinerzeit war es in den DDR-Schulbüchern abgebildet.

Die Arbeit im Rahmenladen ist anspruchsvoll. Soziale Umgänglichkeit, Geduld, ästhetisches und handwerkliches Gefühl sind Voraussetzung. Der Focus des Ladens soll zukünftig noch stärker auf Bild- und Rahmenberatung liegen und auf der Werkstatt mit Glasschneider und Feinsägen und Vakuumpresse. Das Angebot soll noch erweitert werden. »Im Juni eröffnen wir im rechten Raum einen Bilder-Salon. Das wird keine Galerie sein, sondern ein Ort für alle zum Verweilen und Wohlfühlen. Mit den unterschiedlichsten Drucken, Postern und Originalen in Petersburger Hängung, vom local artist bis zu Warhol. Und dann soll es auch kleinere Veranstaltungen geben im neuen Weilensee, mit lokalen Künstlern, Musik und Literatur.«

Immer wieder überbrücken Leute, die im Gesundheitszentrum auf ihren Termin warten, die Wartezeit lieber im Laden mit den Bildern als im Wartezimmer nebenan. Ein Bilderraum mit Sesseln oder Stühlen, das wäre so ein besonderer Weilensee-Ort, wie ihn sich der neue Geschäftsinhaber vorstellt. »Wir verkaufen ja außer Rahmen auch Bilder, und ich habe immer wieder beobachtet, wie der Mensch zum Bild kommt. Wie einer sein Bild findet. Das hängt manchmal jahrelang an der Wand, aber plötzlich bleibt jemand stehen, Gesichtsausdruck und Haltung verändern sich - und dann kauft er. Das ist schon spannend!«

Aber natürlich herrscht auch hier der Zeitgeist. Gerade sei Minimalistisches wieder sehr gefragt, auch dekoratives Grafik-Design. Ab und zu allerdings falle die Wahl dann doch auf etwas Ausgefallenes inmitten dieses riesigen Angebotes aus schwarz-weißen Urban-Jungle-Motiven und Michael Sowas´ trügerische Schweine-Landidylle.

Gemeinsam ist allen Ararat- und Weilensee-Verantwortlichen das Faible für Literatur und Lyrik. Schon Ararat-Urahn Ahmet Doghan gründete in den 70ern einen Verlag für die Literatur der Einwanderer, seine Nachfolgerin Margit Jankowski war Buchhändlerin, und auch Wilfried und Sascha waren bereits Besitzer von Kleinverlagen. Das soll nun fortgesetzt werden mit einem Bildkunstverlag. Dass man in Bildern - und nicht nur in den von Fricke exklusiv verlegten Kreuzberger Comic-Szenen - auch lesen kann, ist altbekannt. War am Anfang nicht doch das Bild und nicht das Wort? Oder gar der Rahmen? •

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