Kreuzberger Chronik
Juli 2020 - Ausgabe 221

Strassen, Häuser, Höfe

Kottbusser Straße 6


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von Sybille Matuschek

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Die Nummer 6 mit ihrer zementgrauen Fassade im Erdgeschoss fügt sich nahtlos ein in eine Reihe schmuckloser Häuser, die im Krieg mit ihrem Stuck und ihren Balkonen auch ihre Würde verloren haben. Schnell und notdürftig wieder aufgebaut führten sie 60 Jahre lang eine unspektakuläre Existenz, dienten mehr oder weniger Mittellosen als Wohnsitz, türkischen Geschäftsbesitzern als günstige Gewerberäume.

»Möchten Sie etwa hier wohnen?«, fragt ein alter Berliner eine Touristin, die mit ihrem Handy gerade ein Foto von der Fassade der Nummer 6 mit der hölzernen, knallgelb lackierten Wohnungstür in der Mitte und dem hohen, schmalen Bogen der Hofeinfahrt an der Seite des Hauses macht. »Hier wohnt doch nur noch Gesindel. Dabei war das mal ne feine Gegend hier.«, sagt der Berliner. Die Touristin lächelt und fragt: »Do you speak English?«

Tatsächlich war das Haus mit der Nummer 6, das sich fast schon am Ende der kurzen Gerade zwischen Landwehrkanal und Kottbusser Tor befindet, einst kein heruntergekommenes Wohnhaus, sondern eine stadtbekannte Adresse, denn hinter der schmalen Hofeinfahrt verbarg sich ein großer und prachtvoller Saal, der den stolzen Namen Hoffmann´s Conzertsaal Sanssouci trug und noch heute auf alten Postkarten zu sehen ist.

Begonnen hat die Geschichte dieses Hauses Mitte des 19. Jahrhunderts, als die südöstliche Luisenstadt noch als »Umgebung von Berlin« bezeichnet wurde, bis die Kühe und Schafe vor dem Kottbusser Tor weiter nach Süden ziehen mussten, weil das erste deutsche Wirtschaftswunder immer mehr Menschen in die Stadt an der Spree lockte. Auf den alten Weiden entstanden in rasantem Tempo hohe Wohnhäuser, die nach dem ersten Goldrausch schnell zu Problemzonen wurden. Die schlechten Wohnbedingungen des Arbeiterviertels gerieten in die Kritik, weshalb sich die Politik bemühte, das Image der Schmuddelecke durch Kultureinrichtungen aufzupolieren.

Dem Herrn Lehmann aus der Kottbusser Straße 18 dauerte das alles zu lange. Der finanzkräftige Rentier beschloss, selbst etwas zur Aufwertung seiner Wohngegend beizutragen und erwarb das Grundstück mit der damaligen Nummer 4a. Dann setzte er sich mit seinen Nachbarn an einen Tisch, beriet, was dort geschehen sollte, und reichte 1877 einen Bauantrag ein. Doch der Antrag wurde zurückgestellt, weil sich neben dem Vorderhaus und dem Seitenflügel noch ein großer Saalbau und ein Garten anschließen sollten, für den eine gesonderte Genehmigung notwendig sei. Obwohl Kultur gefördert werden sollte, taten sich die Behörden schwer mit der Genehmigung. »Die Bitte der Bauarbeiter an den Polizeipräsidenten, sie durch Erteilung der Bau-erlaubnis aus der Not der Arbeitslosigkeit zu befreien, führte ebenso wenig zu einer positiven Entscheidung« wie die Petition einiger Mittelständler, man möge ihnen doch die »edleren Kunstgenüsse« nicht versagen.

Das Sanssouci, erbaut 1877, abgerissen an seinem 100. Geburtstag: 1977






Die Streitigkeiten zogen sich hin, bis der ungeduldige Herr Lehmann auf die Papiere der Behörden verzichtete, zu bauen begann und im großen Festsaal auch ohne offizielle Genehmigungen Konzerte, Theateraufführungen und Versammlungen stattfinden ließ.

Es dauerte nicht lange, da war das »Etablissement Sanssouci« in aller Munde. Mit seiner großen Bühne, den vornehmen Logen und Balkonen wurde es zum »Sammelplatz eines anständigen und guten Publikums«. In schneller Reihenfolge wechselten nun die auf sagenhafte Gewinne spekulierenden Besitzer des Saales, der endlich auch eine Genehmigung für regelmäßige Theateraufführungen erhalten hatte.

1887 übernahm die expandierende Victoria Brauerei vom Kreuzberg das Etablissement und verwandelte das Theater in einen Tanzsaal, in dem nur noch gelegentlich Theateraufführungen stattfanden. Und als ein Gastwirt namens Alfred Topp, der ein paar Meter weiter am Kottbusser Damm über dem Schankraum mit seinem Tali-Kino das erste legendäre Kin-Topp Berlins eröffnete, da wurde wenig später auch Lehmanns Theatersaal zum Lichtspieltheater Sanssouci.

Mit dem neuen Jahrhundert war eine neue Zeit angebrochen. Doch das im Hinterhof versteckte Gebäude war auch jetzt noch multikulturell und diente wahlweise als Theater-, Konzert- oder Tanzsaal, bis nach dem Krieg die Inflation aller Kultur ein Ende bereitete und der Saal geschlossen wurde. 1932 erinnerte sich Emil Boden alias Wilhelm Bendow an den hübschen Saal mit Garten, in dem wie gerufen ein Zille-Denkmal stand, und beschloss, hier sein eigenes Kabarett zu eröffnen. Auch bei diesem Neustart gibt es Ärger mit den Behörden, denn als echter Kabarettist lässt es sich Bendow nicht nehmen, zu provozieren. Anlässlich der Eröffnung von Bendows Bunter Bühne beauftragt er den Maler Gero damit, die Wände des Hofeingangs mit einer Reihe lebensgroßer, bunter Gestalten zu dekorieren, darunter auch die des Kabarettisten Bendow nebst einer »vollkommen nackten Tänzerin«, wie ein braver Polizist seiner Dienststelle meldet, die nichts anderes am Leibe trug als ein Schild in Hüfthöhe, auf dem stand: »Verboten. Dr. Bracht!« Der Beamte bat um Entscheidung, »ob diese Art von Reklame zu beanstanden ist.« Das war sie, und Bendow wurde aufgefordert, die Nackte zu bekleiden, doch hüllte sie Gero in ein so durchsichtiges Gewand, dass alle Konturen ihres Körpers sichtbar blieben. »Auch diese Änderung fand«, wie Jens Dobler schreibt, »nicht den Geschmack der Behörde«, weshalb man abermals zum Pinsel greifen musste. Bendows Bunte Bühne allerdings brachte diese Posse in die Schlagzeilen und verhalf ihr zu anhaltendem Ruhm. 4

Literatur: Jens Dobler: »Von anderen Ufern« - 2003, u. Berliner Handpresse: »Satyren und Launen« - 1982

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