Kreuzberger Chronik
Juli 2020 - Ausgabe 221

Kreuzberger
Peter Unsicker

Man kann nicht an der Mauer wohnen und sie ignorieren.


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Er sagt, es sei die kälteste Nacht seines Lebens gewesen, die Nacht vom 4. auf den 5. April 2020. Es war vier Uhr morgens, Claudia Croon und Peter Unsicker hatten gemeinsam in der Galerie gesessen, vorne im Ausstellungsraum, getrunken, gegessen, geplaudert, wie immer. Bis sie das Flackern sahen. Als sie die Tür zum Bad öffneten, brannte alles schon lichterloh.

Sie haben gekämpft, sich die Haare verbrannt, die Hände, aber das Feuer war schneller, schon stand der Flur in Flammen, schon verschlang der Brand die 2000 Bücher, fraß sich bis zur Werkstatt vor, züngelte die hölzerne Skulptur hinauf und entwickelte eine solche Hitze, dass der Aluminium-Hut der zwei Meter hohen Figur zu schmelzen begann und auf den Boden tropfte.

Als die Feuerwehr den Brand gelöscht hatte, wollten sie mit dem Aufräumen beginnen. Aber es gab nicht mehr viel zum Aufräumen. Zwei Container voll Abfall schafften sie auf die Straße hinaus. Allmählich verstanden sie: Sie hatten ihr Zuhause verloren. Und Unsicker zudem seinen Arbeitsplatz: Die Wall-StreetGallery, seit 33 Jahren beheimatet in der Zimmerstraße Nr. 13, gab es nicht mehr. Für die erste Nacht zogen sie in ein Hotel, jetzt ziehen sie »wie Nomaden durch die Stadt«, seit drei Monaten schon, von Freunden zu Freunden, nach Neukölln, Schöneberg, Tempelhof, Kreuzberg.

Die Bronzeskulpturen haben die Hitze überstanden. Und drei der hölzernen Globen. Auch Unsickers »Liebling« hat überlebt. Ganz schwarz von Ruß und Staub, aber beinahe unversehrt stand er in der Ecke: Der riesige Eichenglobus, an dem Unsicker viele Jahre gearbeitet hat; herausgehauen aus dem Stumpf eines Baumes, den man auf dem muslimischen Friedhof am Tempelhofer Feld gefällt hatte, und dessen Jahresringe die Vermutung zuließen, dass er just in jenem Jahr gepflanzt wurde, als einer der Lieblingsdichter von Unsicker sich am Wannsee mit seiner Geliebten das Leben nahm: Heinrich von Kleist.

Jahrelang trocknete der Stamm in der Werkstatt des Bildhauers, bis eines Tages tatsächlich die Mauer fiel und Unsicker zur »Wiederbelebung des Todesstreifens« den Baumstumpf in den von Pflanzengift verwüsteten Sandstreifen pflanzte, um Sektgläser darauf zu stellen. Er feierte die Rückkehr des Lebens, den freien Blick auf die Welt. Auch wenn mit der Mauer die vielleicht wichtigste Projektionsfläche der Wall-StreetGallery verschwand. In den drei Jahren zwischen 1986 und 1989 hatte Unsicker die Mauer immer wieder für seine Aktionen genutzt. Und damit weltweit Aufmerksamkeit erregt. Nicht zu Unrecht schrieb die taz von der interessantesten Galerie der Stadt, im November 1987 zitierte sogar die New York Times in einem langen Artikel über die Galerie den Galeristen Peter Unsicker, der in der Mauer so etwas wie ein ein gesamtdeutsches Kunstwerk sah:

»It´s built by Germans in the East, paintet by Germans in the West.«

Bild: Holger Groß


Dabei hatte Unsicker die Mauer nie in den Fokus seiner Arbeit rücken wollen. Es war kein Plan, eher Zufall gewesen, dass er hier, fünf Meter vor dem antifaschistischen oder antiimperialistischen Schutzwall landete. Eine lange Kette von Zufällen.

Dass er nach Berlin kam, nach Kreuzberg, war dagegen kein Zufall. Schon 1969, in Südafrika, erzählten ihm ein paar langhaarige, begeisterte Berliner von ihrer Stadt und der 68er-Revolution, von den Kneipen und den riesigen Wohngemeinschaften in Sechszimmerwohnungen, an deren Wänden keine Tapeten, sondern Plakate klebten. Noch heute liebt Unsicker diese großformatigen Kombinationen von Wort und Bild. So kam es, dass er 1971 zuerst in die Graefestraße und später in die Oranienstraße zog, gleich gegenüber vom Esso. »Da können Sie doch nicht wohnen!«, sagte der Verwalter der Fabriketage, denn es gab weder Küche noch Bad, nur einen Gewerbevertrag.

In der Oranienstraße wurde der gelernte Grafiker und Schriftsetzter zum Künstler, nahm an Ausstellungen teil, erhielt den Landespreis für das erhaltende Handwerk und schrieb in der Kiezzeitung Kreuz- und Querberger, die um die Ecke bei Keuledruck entstand. Er war mittendrin im Kreuzberg der Siebzigerjahre, trat im Esso zwischen einem »Duo aus Schreibmaschine und Flex« auf und war dabei, als die Kreuzberger 1976 ihr erstes selbstorganisiertes Straßenfest veranstalteten und zwischen Heinrich- und Oranienplatz eine lange Tafel aufstellten, an der eine ganze Nacht getrunken wurde. Die Berliner in Johannisburg hatten recht: Hier fand das Leben auf der Straße statt.


Bild: Holger Groß











Berlin war anders als Heidelberg, wo Peter Unsicker geworden war, in einer hübschen, aber spießigen Gegend nicht weit vom Philosophenweg. Wäre da nicht der Rhein gewesen, in dem sie schwimmen konnten, und der Odenwald, in dem sie Esskastanien sammelten, und wären da nicht die Alpen gewesen, durch die der kleine Peter im Sommer mit dem Vater wanderte, dann hätte er die Schule vielleicht schon viel früher abgebrochen und wäre schon viel früher aus dem Elternhaus geflüchtet, in die Schweiz und nach Italien und bis nach Südafrika. »Ich wollte da weg! Heidelberg war nichts für mich.«

Berlin aber war genau das Richtige für ihn! Dreizehn Jahre blieb Unsicker in der Fabriketage, verkaufte Schmuck, war auf Straßen-märkten und fuhr regelmäßig zum Hamburger Hafen, wo er den Abfall-Container eines Holzhandels nach Edelhölzern durchstöberte. »Da waren wertvolle Hölzer dabei, Palisander, Teak, Grenadill und Pockholz, das härteste Holz der Welt. Ich bekam die Reste für kleines Geld.« Es hätte ewig so weitergehen können, aber eines Tages besuchte er Monika in ihrer kleinen Ladenwohnung in der Zimmerstraße, die dort alte Möbel restaurierte. Sie sagte: »Ich hätte gerne auch so eine Fabriketage wie du, mit viel Licht. Ich habe keine Lust mehr, jeden Tag auf die Mauer zu glotzen.« Eigentlich hatte Peter Unsicker auch keine Lust auf die Mauer, aber er »wollte zurück auf die Straße. Ich wollte mit den Leuten ins Gespräch kommen. Und hier oben, in den 3. Stock, da kam keiner hin!«

Er hätte wahrscheinlich auch jede andere, ebenerdige Ladenwohnung genommen. Die Mauer war nicht sein Thema. Wenn es ein Thema gibt, das sich durch seine Arbeit zieht, dann sind es die Metamorphosen der Natur. »Aber man kann nicht an der Mauer wohnen und sie ignorieren!« Man kann nicht täglich auf eine Zementwand blicken, ohne sich zu ärgern. Ohne etwas dagegen zu unternehmen. Die Wall-StreetGallery musste eine Protestaktion werden, sie konnte gar nicht anders.


Bild: Peter Unsicker









Peter Unsicker war auf die Mauer und das Land hinter der Mauer ohnehin nicht gut zu sprechen. Dieses Land hatte sich schon 1973 mit ihm angelegt. Der junge Mann hatte sich gefreut auf die Weltjugendspiele in Ost-Berlin, und nun ließen ihn die Grenzbeamten der DDR wegen seiner vielen Stempel im Reisepass nicht über die Grenze. Dabei ist Peter Unsicker ein Freigeist! Er liebt Grenzüberschreitungen.

Kaum war er 18 Jahre alt zog er in ein lichtscheues Schweizer Tal, in dem im Winter die Lawinen so laut grollten, dass er nach Zürich flüchten musste. Dort endlich hatte er »einen freien Blick auf Italien«, fuhr im Sommer zum Baden nach Genua und war am Strand der einzige Deutsche unter lauter italienischen Familien. Er fuhr nach Johannisburg, als man dort Grafiker suchte, und reiste mit einem englischen Edelsteinhändler ins damalige Südwest-Afrika, um bei Eingeborenen Tigeraugen und andere Halbedelsteine gegen Salz einzutauschen. Unsicker hatte schon viele Grenzen überschritten, und nun scheiterte er an der Berliner Mauer. Das hatte er nicht vergessen.

Vielleicht musste er an diesen Tag denken, als er am 9. November 1986, dem Tag der Eröffnung der Wall-StreetGallery, am antifaschistischen Schutzwall einen kleinen Kinderkopf installierte, der etwas traurig durch die Mauer zu blicken schien. Die Aktion blieb auf beiden Seiten der Mauer nicht unbemerkt, »die Zentralorgane schickten ihre Krieger und Handlanger. Eine sieben Mann starke Horde kam spät in der Nacht« und entfernte das Kunstwerk. Das ging Unsicker »entschieden zu weit« und führte dazu, dass am nächsten Morgen nicht einer, sondern zwei Köpfe aus der Wand blickten. »Und wieder kamen die soldatischen Gestalten aus Ost und West, rissen und schabten die Masken von der Wand. Ich verdoppelte wieder und nochmals, von zwei auf vier auf acht auf sechzehn und auf zweiunddreißig; irgendwann hörte ich auf zu zählen. (…) Aus dem Symbol des Kalten Krieges erschienen, - gingen in stetig wachsender Anzahl Engelsgesichter hervor.« Es war wie mit der sagenhaften Hydra, der man einen Kopf abschlug, und sofort wuchsen ihr an gleicher Stelle zwei neue nach.

Vier Monate dauerte das Maskenspiel, die Gesichter wurden mehr und mehr, bis eines Tages zwei Herren von der Stasi vor der Tür standen, auf die der Galerist geschrieben hatte: »Geöffnet nach Osten und nach Westen und nach Vereinbarung.« Er lud die Herren dazu ein, hereinzukommen und die Angelegenheit bei einer Tasse Tee zu besprechen. Sie lehnten dankend ab und deuteten auf die Türschwelle. Damals verstand er, dass die Demarkationslinie zwischen den beiden deutschen Staaten nicht an der Mauer verlief, sondern entlang seiner Türschwelle. Das Straßenpflaster gehörte zum Hoheitsgebiet der DDR. »Sie bleiben hier auf ihrem Territorium, und wir auf unserem!«, sagten die Beamten. Und wenn er nicht mit diesem Unfug aufhöre, dann würde man ihm nächstens die Fenster zunageln.

Bild: Peter Unsicker










Daraufhin beschloss Peter Unsicker, dem Genossen Erich Honecker einen Brief zu schreiben. Allerdings fehlte ihm dazu dessen Postanschrift. Als er eines Nachts einen Igel die Mauer entlangspazieren sah, folgte er dem kleinen Kerl ihm bis zum Checkpoint Charlie, wo das Tierchen unbehelligt die Grenze überkrabbeln konnte, während Un-sicker abermals draußen bleiben musste. Wenig später allerdings kam auch der Igel eiligst wieder zurückgelaufen. Ihm schien die DDR nicht sonderlich zu behagen. Der Igel aber brachte Unsicker auf die Idee, beim Grenzübergang am Checkpoint nach Honeckers Adresse zu fragen. Die Grenzer waren verwundert über das ungewöhnliche Anliegen des jungen Mannes, leiteten ihn jedoch freundlich weiter, bis er nach drei Zimmern vor einem jungen Beamten stand, der Unsicker versicherte, die Adresse des Staatsoberhauptes der DDR nicht mitteilen zu dürfen. Dafür lud er den um den Frieden besorgten Galeristen zu einem Besuch nach Ostberlin ein. So kam es, dass Unsicker eines Tages doch noch die innerdeutsche Grenze überschreiten durfte. Die Stasi bot ihm eine Spazierfahrt an, wanderte mit ihm um einen einsamen See und fragte, ob er nicht mit ihnen gemeinsam für den Frieden in der Welt kämpfen wolle. Unsicker sagte, dass er das erst mal mit seinen Freunden besprechen müsse.

Und machte weiter wie bisher: Er lehnte hölzerne Palisaden an die Zementwand, um etwas Organisches dagegen zu setzen; klebte in einer Frostperiode mit gefrierendem Wasser »Another Brick on the Wall«; legte ein menschliches Skelett quer über den schmalen Streifen der halbierten Zimmerstraße. Niemand weiß, was ihm noch eingefallen wäre, um auf die Absurdität dieser Mauer aufmerksam zu machen. Und um sich, ganz nebenbei, für den verweigerten Eintritt beim Fest der Weltjugend zu rächen.

Aber dann kam der 9. November 1989. Exakt drei Jahre nach der Eröffnung der Wall-StreetGallery fiel die Mauer. Unsicker rollte seinen alten Eichenstumpf auf den Todesstreifen. Und weil er nun endlich wieder einen freien Blick auf diese Welt hatte, formte er aus dem Holzklotz seinen ersten Globus. Eine runde, gesunde Welt, die zwar schon erste Risse zeigt und erste Alterserscheinungen, die aber noch immer samtig und seidig glänzt und noch immer die feinen Linien ihrer Meridiane besitzt. Jetzt liegt diese Kugel im Keller. Aber sie hat das Feuer beinahe unbeschadet überstanden. Irgendwann wird Peter Unsicker sie wieder hervorholen und ins Fenster rollen. Irgendwann werden sich die Spuren dieses Unglücks verloren haben. So wie auch die Mauer beinahe spurlos verschwunden ist aus dieser Stadt. So wie alles eines Tages einmal verschwunden sein wird. Nur der Globus wird bleiben. •

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