Kreuzberger Chronik
Juli 2020 - Ausgabe 221

Kanzlei Hilfreich

Die Geschichte von Rosel


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von Kajo Frings

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Der Anwalt Jens Hilfreich stellte fest, dass es immer einen Sachverständigen, einen Versicherungsvertreter, einen Autohändler, einen Bankberater gab, egal, welche Branche, der bereit war, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen. Und wenn man damals im kleinen Kreuzberg genau hinschaute, waren es oft dieselben Gestalten, die bei kleinen oder großen Betrügereien zusammenwirkten.

Da kam eines Tages eine Sozialarbeiterin aus einem Haus für betreutes Wohnen. Die von ihr betreute Rosel hatte ein sonniges Gemüt und ein schlechtes Gewissen. Rosel war nicht die Hellste. Aber sie hatte ein Gespür, wenn etwas nicht in Ordnung war. Da hatte sie kürzlich einen jungen Mann im Café getroffen, der sehr nett zu ihr war. Der hatte ihr erzählt, dass er mal ins Warme verreisen wolle. Ob sie nicht mitwolle. Er könne ihr auch ein Auto besorgen. Rosel sei ja schon zwanzig und er bräuchte »nur mal ihren Ausweis geliehen«. Für ein paar Tage. Und eine Anstellung werde er ihr auch besorgen.

Und siehe da, plötzlich hatte Rosel eine Arbeitsbescheinigung der Firma Zweite Hand und drei Lohnbescheinigungen. Dabei hatte sie in ihrem ganzen Leben noch keine feste Arbeitsstelle gehabt. Sie zeigte Jens die Papiere, die auffällig unauffällig waren. Ein Anruf bei der Zweiten Hand klärte, dass Rosel dort nie gearbeitet hatte. Die Papiere waren Totalfälschungen. Aber sie hatten ausgereicht, um einen Kredit über 12.000 DM zu erhalten, die zur Anzahlung für ein neues Auto nötig waren. Weder der Angestellte des Autohauses, noch der Mitarbeiter des Kreditinstitutes hatten ihr Probleme bereitet. Bei der KFZ-Zulassungsstelle half ihr der freundliche junge Mann aus dem Café, und dann war er fort. Und das Auto auch. Ja, und jetzt hatte Rosel Angst, weil sie ja den Kredit nie zurückzahlen konnte.

Jens riet ihr, mit ihm zur Polizei zu gehen, und begleitete sie zum LKA. Zum Glück gerieten sie an einen netten Beamten, der ihre Geschichte glaubte. Und als Rosel die Lichtbildkartei der Polizei durchsah, erkannte sie den jungen Mann wieder, der schon wegen anderer Gaunereien bekannt war. Rosel hatte sich die Autonummer »ihres« PKW gemerkt und das führte dann dazu, dass der an der griechisch-türkischen Grenze vom Zoll sichergestellt werden konnte.

Und es war tatsächlich so, dass in der letzten Zeit mehrere Autos von Kunden desselben Cafés auf Kredit gekauft worden waren, alle mit Lohnbescheinigungen der Zweiten Hand, alle vom selben Autohaus und derselben kreditgebenden Bank. Und jedesmal mit denselben Unterschriften. Bis auf den PKW von Rosel hatten wohl alle im Nahen Osten einen zahlungskräftigen Käufer gefunden.

Ein Verfahren gegen Rosel wurde gar nicht erst eröffnet. Sie war schließlich Opfer, nicht Täter. •

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