Kreuzberger Chronik
Oktober 2019 - Ausgabe 213

Geschichten & Geschichte

O ewich ist so lanck! (7):
Theodor Mommsen



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von Eckhard Siepmann

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Eine lange rötliche Backsteinmauer trennt den alten Teil des Dreifaltigkeitsfriedhofs von der späteren Erweiterung nach Süden. Ein schmales niedriges Torloch in der Mauer nahe dem rechten Aufgang ermöglicht den Übergang. Links vor dem Tor liegen die Gebeine von Andreas Reimer, dem agilen Verleger der romantischen Schriftstellerbande, rechts hinter dem Tor die des Starhistorikers Theodor Mommsen. Der räumlichen entspricht die verwandtschaftliche Nähe: Mommsen war der Schwiegersohn von Reimer, sie zeugten jeder 16 eheliche Kinder.

Bedächtig, tief in Gedanken, steigt der berühmte Wissenschaftler in Schlafrock und Pantoffeln die höchste Leiter seiner Bibliothek empor. Hochdroben unter der Decke steht das irische Wörterbuch. Wild stehen ihm seine langen schlohweißen Haare vom Kopf ab, die Kerze wirft heiße Tropfen auf seine nicht mehr ganz ruhige Hand. Was heißt Inschrift auf irisch? Als er den Arm hebt, um das Buch heraus zu angeln, fangen die Haare Feuer. Theodor Mommsen steht in Flammen. Als seine Brandwunden verarztet sind, scherzt er schon wieder. Ein andermal kommt es noch dicker, es brennt die ganze Bibliothek. Der alte Mann stürzt immer wieder in Rauch und Feuer, um zu retten, was noch zu retten ist an Raritäten und Kostbarkeiten, bis er, schon angesengt, von seinen Kindern zurückgezerrt wird.

Mommsen war der bekannteste deutsche Gelehrte seiner Zeit, eine europaweit berühmte Koryphäe der Geschichtswissenschaft. Er sah nicht nur kauziger aus als Einstein in seinen haarigsten Jahren, sondern er verhielt sich auch genau so zerstreut, wie man es von einem hochkarätigen Professor gerne annimmt. Bei der Trauerfeier für den Großvater seiner Ehefrau Marie wechselt er den Schlafrock mit dem schwarzen Frack, erscheint aber vor der Trauergemeinde mit seinen gelben Pantoffeln.

1817 kommt Theodor im Nordfriesischen zur Welt. Mit 20 beginnt er ein Jurastudium an der Universität Kiel, verfasst eine Dissertation über das römische Recht und geht mit Theodor Storm einen Dichterbund ein. Zunächst schlägt er sich als Aushilfslehrer an einem Mädchenpensionat durch, aber als er ein Reisestipendium ergattert, schreibt er seinen Schülerinnen Verse in die Poesiealben und gelangt nach Aufenthalten in Paris und Florenz nach Rom. In der ewigen Stadt ärgert er sich über die hohen Wirtshauspreise, entwickelt aber auch eine lebenslange Leidenschaft für die steinernen Inschriften der Antike. 1848 erhält er eine Professur für römisches Recht an der Universität Leipzig. Der Sprung in ein Gelehrtendasein scheint geschafft. Wäre da nur nicht sein politisches Temperament, seine Ablehnung der ständisch-feudalen Privilegiengesellschaft, sein beredtes Eintreten für eine geeinte demokratische Nation.

Ein Jahr nach der Märzrevolution von 1848 verlagert sich der Aufruhr von Berlin auch nach Sachsen. In Dresden berät der Architekt der Semperoper die Barrikadenbauer, der Komponist Richard Wagner, der gerade seine Oper Lohengrin ausheckt, schafft Handgranaten herbei, und der wüste Gottvater des internationalen Anarchismus, Michael Bakunin, gibt sich als autoritärer Oberaufseher. Aber auch in Leipzig gärt es. Mommsen schließt sich mit anderen Gelehrten und Wortführern des liberalen Bürgertums den ungebärdigen Aufrührern an. Die verhöhnen die akademischen Eierköpfe allerdings als »vertrocknete Geister«, die jahraus, jahrein sich an der »Entzifferung eines Tintenkleckses« abmühen. Als ruchbar wird, dass sich preußische Truppen auf dem Marsch nach Dresden befinden und der Stadtrat es ablehnt, den kämpfenden Dresdenern zu Hilfe zu kommen, zieht Mommsen mit einigen gelehrten Freunden und dem Ruf »Bürger heraus!« durch die Straßen, um für eine Volksversammlung zu mobilisieren. Der Mut der Liberalen sinkt jedoch, als sich Straßenkämpfe abzeichnen. Sie machen sich von dannen.

Nachdem die Ordnung wiederhergestellt ist, droht das Kultusministerium den Professoren mit Amtsenthebung. Sie sollen versprechen, sich künftig politischer Tätigkeit zu enthalten. Mommsen und seine Kollegen lehnen das entrüstet ab. Ihnen wird daraufhin wegen ihres Straßengeschreis Vorbereitung zum Hochverrat vorgeworfen, Mommsen wird zu neun Monaten Haft verurteilt. Eine Berufungsinstanz erbarmt sich schließlich der Gelehrten: Sie seien Theorieköpfe, dem praktischen Leben fremd, daher unschuldig und freizusprechen. Aus der Uni fliegen sie allerdings heraus. Mommsen umdichtet Rauswurf und Revolutionsscheitern mit folgenden Versen: Aus der Heimat zieh ich wieder / Fremder Mann, ein armer Mann / Unsere Sterne sanken nieder / Und der Tag brach nimmer an.«

1858 landet Mommsen schließlich im ersehnten akademischen Berlin und hält bis 1885 Vorlesungen. Für seine vierbändige Geschichte Roms wird er ein Jahr vor seinem Tod mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Literatur? Tatsächlich hat er die Sprache der Geisteswissenschaft verjüngt: Extreme Faktengenauigkeit verband er mit einem populären Stil, der vor persönlichen Verurteilungen nicht zurückschreckte und sich romanhaften Formen annäherte.

1903 starb Mommsen und wurde zu den Klängen von Chopins Trauermarsch an der rötlichen Backsteinmauer bestattet. Unter seinen zahlreichen Nachkommen befindet sich unter anderen auch ein bekannter Bremer Tatortkommissar: Oliver Mommsen. Der Schauspieler wohnt seit einigen Jahren im Chamissokiez und dürfte seinem Ahn auf einem der Spaziergänge über die Bergmannfriedhöfe sicherlich schon einmal begegnet sein. •

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